Süddeutsche Zeitung

Holocaust-Gedenken in Auschwitz:"Wo wart ihr, wo war die Welt?"

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Von Florian Hassel, Auschwitz

Überlebende und Staats- und Regierungschefs haben am 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee der Opfer gedacht und zum Kampf gegen den wieder auflebenden Antisemitismus aufgerufen.

Vor dem Eingang zum Lager Auschwitz-Birkenau erinnerte Polens Präsident Andrzej Duda vor mehr als 200 Überlebenden und Delegationen aus 50 Ländern "in dieser Fabrik des Todes" an rund 1,3 Millionen Ermordete, davon 1,1 Millionen Juden. "Wir verneigen uns vor mehr als sechs Millionen Juden", die in anderen deutschen Todeslagern, Ghettos und anderen Orten ermordet wurden. Er bezeichnete den Holocaust als grausamstes Verbrechen in der Geschichte der Menschheit: "Vor 75 Jahren endete hier der monströseste Albtraum, der fünf Jahre zuvor begonnen hatte."

Die 95 Jahre alte Überlebende Batsheva Dagan erinnerte daran, dass die Welt vom Judenmord gewusst, aber nichts getan habe, um das Morden in den Gaskammern zu stoppen. "Wo wart ihr, wo war die Welt, die sah und hörte und nichts tat, um diese vielen Tausend zu retten?" Die aus Hamburg stammende Elsa Baker, von den Deutschen als Roma im Alter von acht Jahren nach Auschwitz verschleppt, erinnerte an "mehr als 500 000 ermordete Roma und Sinti", die dem deutschen Massenmord zum Opfer fielen.

Stanisław Zaleski aus Łodz beschrieb ihn bis heute verfolgende Bilder nackter Frauen, die schreiend in die Gaskammern getrieben wurden und Gefangene, die sich in den elektrisch geladenen Zaun warfen, um schneller zu sterben. Ronald Lauder, Präsident des Jüdischen Weltkongresses, sagte, fast jedes Land in Europa habe dem nationalsozialistischen Deutschland geholfen, für den Massenmord bestimmte Juden einzusammeln. 1,5 Millionen Opfer seien jüdische Kinder gewesen. "Welche Symphonien hätten sie schreiben können, wenn sie gelebt hätten?" Heute kämpften die Enkel der Überlebenden wieder mit Hass und Antisemitismus. Lauder rief zu entschiedenerem Handeln auf: "Gesetze müssen verabschiedet werden, harte Gesetze, die diese Hassprediger auf lange Zeit ins Gefängnis bringen." Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besuchte vor der Zeremonie die Gedenkstätte in Auschwitz-Birkenau und betonte, die deutsche Verantwortung kenne keinen Schlussstrich. Er habe den Eindruck, dass Worte und Taten heute andere seien, doch das Böse noch vorhanden sei. "Wir wissen, was geschehen ist, und wissen, dass es wieder geschehen kann", schrieb der Bundespräsident ins Gedenkbuch von Auschwitz-Birkenau. Polens Präsident Duda traf seinen israelischen Kollegen Reuven Rivlin. Das Verhältnis Polens zu Israel ist angespannt, seit Warschau sein Land ausschließlich als Opfer im Zweiten Weltkrieg sieht. Rivlin lud Duda, der vorige Woche nicht zum Holocaust-Gedenken in Jerusalem gekommen war, nach Israel ein, um das Verhältnis zu entspannen.

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SZ vom 28.01.2020
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