Süddeutsche Zeitung

Afghanische Ortskräfte:Die unmögliche Wahl zwischen Leben und Familie

Lesezeit: 2 min

31 Frauen wenden sich in einem Brief aus Afghanistan an die Bundeskanzlerin mit der Bitte, auch ihre Familien zu retten. Unterdessen scheint noch immer nicht klar, wie viele Ortskräfte im Land zurückgelassen wurden.

Von Sara Maria Behbehani, München

"Wie sollen wir wählen zwischen unserem Leben und unserer Freiheit auf der einen Seite und unserer Familie auf der anderen Seite?" Diese Frage richten 31 afghanische Frauen, die als Ortskräfte für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) gearbeitet haben, in einem Brief an die Bundeskanzlerin, den Außenminister, den Innenminister und den Entwicklungsminister. Ihr Dilemma: Als alleinstehende Frauen haben sie keine Chance, dass mit ihnen auch ihre Familien aus dem Land geholt werden.

Denn die Bundesregierung hat versprochen, afghanische Ortskräfte mit ihren Kernfamilien aufzunehmen: mit Partnern und Kindern also. Solche haben die betroffenen Frauen nicht. Aber, so heißt es in dem Brief, "die Strukturen in afghanischen Familien sind andere als die in deutschen". Sie seien die Ernährer ihrer Familien, ihrer Mütter, Väter, Schwestern, Brüder oder Nichten und Neffen. "Wenn die GIZ mich ohne meine Familie herausholt, dann werden sie Hunger leiden", schreibt eine von ihnen. "Ich kann sie nicht zurücklassen. Aber wenn ich in Afghanistan bleibe, dann begebe ich mich selbst in Gefahr."

Alle zusammen seien sie immer noch weniger als 200 Personen. Die Frauen appellieren nun an das Mitgefühl und die Humanität der Kanzlerin. "Bitte zwingen Sie uns nicht, eine unmögliche Entscheidung zu treffen", schreiben sie.

Die Zahl der zu rettenden Menschen ist noch immer unklar

Unterdessen scheint noch immer nicht klar zu sein, wie viele Ortskräfte Deutschland überhaupt in Afghanistan zurückgelassen hat. Zu ihrer Anzahl etwa im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit "können wir uns derzeit aus Sicherheitsgründen nicht äußern", heißt es aus dem Entwicklungsministerium. Und die Zahlen, mit denen operiert wird, geben einige Rätsel auf.

Denn obwohl das Ziel der Evakuierungsflüge und der Luftbrücke nach Kabul einmal war, möglichst viele Ortskräfte auszufliegen, waren unter den knapp 5000 geretteten Menschen nur 138 Ortskräfte. Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass das Innenministerium bis zum 14. August, also einen Tag vor dem Fall von Kabul, davon ausging, dass es überhaupt nur 174 Ortskräfte für die gesamte Bundesregierung gäbe - mit Familienangehörigen insgesamt 886 Personen. "Das war der Stand zu Beginn der Evakuierungsmission", sagte Steve Alter, Sprecher des Bundesinnenministeriums, am Montag in Berlin.

Doch wie sehr man sich verschätzt hat, zeigen die Zahlen, von denen das Ministerium inzwischen ausgeht: Der Anteil derer, die in einem relevanten Verhältnis zu den Ortskräften stehen, soll insgesamt bei mehr als 40 000 Personen liegen. Um diese Zahl zu bewerten, sei es wichtig, den Zeitverlauf zu sehen, sagte Alter. "Wir haben die Evakuierung mit einem Stand begonnen, den wir kannten. Während dieses Prozesses hat sich dieser Stand erhöht."

Marcus Grotian, Bundeswehroffizier und Gründer des Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte, kann sich allerdings weder die ursprüngliche Zahl von 174 Ortskräften erklären, noch die derzeitige, bei der man von 8000 Ortskräften ausgehen müsste, um mit Familienangehörigen auf 40 000 zu kommen. Er habe sich sehr genau angesehen, wie viele Menschen von 2013 an für die Bundeswehr und andere Ressorts gearbeitet hätten. "Da komme ich auf 2500 bis 3000 Ortskräfte. Mit Familienangehörigen bin ich vielleicht bei 15 000 Personen", sagt er. "Davon wurden aber in den Jahren von 2014 bis 2020 ungefähr 4000 Menschen nach Deutschland aufgenommen." 2021 sind ihm zufolge um die 1900 mit Visa nach Deutschland gekommen und ungefähr 600 an Bord der Evakuierungsflüge gewesen. Er gehe deshalb davon aus, dass zwischen 8000 und 8500 Menschen im Land zurückgelassen worden seien.

Die Diskrepanz zwischen diesen Zahlen kann sich auch Omid Nouripour, außenpolitischer Sprecher der Grünen, nicht erklären. Für ihn ist das ganze Afghanistan-Debakel Anlass für heftige Kritik an der Bunderegierung und am - wie er sagt - "schlechtesten Außenminister der Geschichte Deutschlands". Es sei nicht tragbar, was Maas, aber auch die Verteidigungsministerin, der Minister für Entwicklungszusammenarbeit und der Innenminister da veranstaltet hätten. Da stelle sich irgendwann auch die Frage nach der Kompetenz der Kanzlerin. "Aber man kann ja nicht das ganze Kabinett austauschen."

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