Süddeutsche Zeitung

Krieg in der Ukraine:"Die Tiere waren extrem verstört"

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Unter den Bomben in der Ukraine leiden auch die Zoo-Bewohner. Das Nemo-Delfinarium in Charkiw hat seine Delfine, Robben und Seelöwen mittlerweile nach Odessa gebracht - in einer extrem aufwendigen Evakuierungsaktion.

Interview von Tomas Avenarius, Odessa

Der Krieg in der Ukraine hat auch das Leben im Nemo-Delfinarium von Odessa verändert. Noch im März gab es Überlegungen, die Tiere dort zu evakuieren. Obwohl die strategisch wichtige Hafenstadt weiter beschossen wird, hat man sich mit dem Kriegsgeschehen arrangiert. Flüchtlinge können etwa die tägliche Aquashow kostenlos besuchen. Und das Delfinarium hat mittlerweile sogar Zuwachs bekommen. Ein knappes Dutzend Delfine, Robben und Seelöwen aus dem Delfinarium der lange umkämpften Stadt Charkiw nahe der russischen Grenze wurden unter schwierigsten Umständen nach Odessa evakuiert. Dort sind sie vorerst in Sicherheit. Was der Krieg und die lange Reise für die Tiere bedeutet, erklären die Delfin-Trainerin Anastasija Bobrowskaja aus Odessa und ihr Kollege Witalij Zukanow aus Charkiw.

SZ: Ein halbes Dutzend Delfine, Robben und Seelöwen fast 1000 Kilometer durch die Ukraine zu fahren - war das wirklich nötig?

Witalij Zukanow: Ja, absolut. Die Stadt Charkiw lag ja wochenlang unter schwerstem russischen Beschuss. Die Tiere waren extrem verstört.

Was haben Delfine, Robben und Seelöwen denn vom Krieg mitbekommen?

Witalij Zukanow: Die Einschläge. Die Detonationen der Raketen, Bomben und Granaten waren oft sehr, sehr nah. Die Tiere spürten die Erschütterungen und Vibrationen. In den Becken herrschte in diesen Momenten das totale Chaos. Die Tiere sind bei jedem Beschuss wie wild herumgeschwommen oder haben sich verschreckt auf den Grund gelegt.

Sie hatten also Angst?

Witalij Zukanow: Ja, sicher. Delfine, Robben oder Seelöwen reagieren doch nicht anders als wir Menschen: Sie leiden unter dem Krieg.

Und da haben Sie beschlossen, sie aus der Stadt zu schaffen?

Witalij Zukanow: Ja, aber das war nicht so einfach. Wir haben sehnlich auf eine Gelegenheit gewartet, sie sicher aus der Stadt zu bringen. Erst am 24. April konnten wir fahren.

Und wie haben Sie die elf Delfine, Robben und Seelöwen nach Odessa geschafft?

Witalij Zukanow: Mit einem 20-Tonner, einem Lkw samt Anhänger. Vorne fuhren die sechs Delfine, im Hänger die drei Robben und die zwei Seelöwen. Die Tiere waren in speziellen Transportbecken untergebracht, so eine Art Badewanne. Diese Reise war zwar auch extrem stressig. Aber von dieser Belastung haben sich die Tiere jetzt erholt, das ging schnell.

Wie lange waren Sie unterwegs?

Witalij Zukanow: Die Strecke Charkiw-Odessa kann man in zehn Stunden schaffen, aber wir waren gut 20 Stunden unterwegs. Wegen des Beschusses in manchen Landesteilen mussten wir Umwege fahren. Die Straßen waren oft in einem miserablen Zustand. Dazu heulten dauernd die Sirenen, Luftalarm. Und an jedem Checkpoint - und von denen gibt es wirklich sehr, sehr viele in der Ukraine - haben die Soldaten die Ladung gecheckt. Alle wollten sich alles ganz genau angesehen.

Haben Sie denn alle Ihre Tiere evakuieren können aus dem Delfinarium in Charkiw?

Witalij Zukanow: Nein, wir haben dort noch zwei Beluga-Wale, die gehören auch zur Show. Das Problem ist: Jeder einzelne dieser Wale wiegt zwei Tonnen. Um sie aus dem Becken zu hieven, brauchen wir einen Kran. Und nicht nur das: Um sie aus dem Wasser herauszubekommen, müssen wir erst einmal die große Glaskuppel über dem Becken abmontieren. Dafür brauchen wir gut drei Dutzend Leute. Das ist alles nicht so einfach. Aber wir hoffen, dass wir auch unsere Belugas bald nach Odessa bringen können.

Und die elf Delfine und Robben aus Charkiw - leben die jetzt friedlich miteinander mit den 40 Tieren aus Odessa? Oder tragen sie Rang- und Revierkämpfe miteinander aus?

Anastasija Bobrowskaja: Nein, die können eigentlich gut zusammenleben und zusammenarbeiten. Die Tiere aus Charkiw sind noch in Quarantäne, das ist gesetzlich vorgeschrieben. Aber dann bringen wir sie mit unseren Delfinen und Robben zusammen - das ist kein Problem.

Sie selbst arbeiten seit zehn Jahren mit Delfinen. Was bedeutet es für Sie?

Anastasija Bobrowskaja: Delfine sind einzigartig. Kein Mensch bleibt ungerührt, wenn er diese Tiere sieht und erlebt. Sie sind geheimnisvoll und verbreiten doch so wahnsinnig viel Freude: Sie geben einem jede Menge positive Energie.

In Zeiten des Krieges ist das viel wert.

Anastasija Bobrowskaja: Ja, dieser grauenhafte Krieg - ich kann ihn nur mithilfe meiner Delfine ertragen. Die Delfine kommunizieren mit uns, sie schwimmen und spielen mit uns. So geben sie mir jeden Tag das Gefühl, dass das Leben eben doch weitergeht. Egal, was da draußen Schreckliches geschieht.

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