Süddeutsche Zeitung

Türkei:Das Zittern vor dem Beben

Lesezeit: 3 min

Von Christiane Schlötzer

Am Donnerstag vor einer Woche hat ein Erdbeben der Stärke 5,7 Istanbul erschüttert, es gab etwa drei Dutzend Verletzte, keine Toten, die Gebäudeschäden hielten sich in Grenzen. Ein Minarett knickte ab, vier Schulen blieben aus Sicherheitsgründen gesperrt. Das war das stärkste Beben, das in Istanbul seit 20 Jahren zu spüren war, es hat die 15 Millionen Menschen in der Megastadt unsanft daran erinnert, dass eine der gefährlichsten Bruchzonen der Erde direkt vor ihrer Haustür liegt, unter dem Marmarameer. Seismologen sagen schon lange, eine schwere Erschütterung sei quasi unausweichlich. Nur kann niemand angeben, wann sie passiert.

Das gilt zwar immer noch, aber was der Direktor der Istanbuler Erdbebenwarte Kandilli, Professor Haluk Özener, nach dem jüngsten Beben - und einem schwächeren der Stärke 4,7 zwei Tage zuvor - zu sagen hatte, klang nicht gerade beruhigend: "Wir wissen nicht, wann es passiert, aber leider kann ich sagen, wir nähern uns dem Endpunkt rasch." Özener sagte auch: "Jeder sollte seinen Teil tun. Wir müssen die Möglichkeit eines Erdbebens immer in einer Ecke unseres Kopfes haben."

Seitdem ist die Zahl der abgeschlossen Erdbebenversicherungen in Istanbul um 100 Prozent in die Höhe geschossen. Und viele Istanbuler studieren die geologischen Karten, die es im Internet gibt, weil das Risiko innerhalb der Riesenstadt ungleich verteilt ist. Richtung Schwarzes Meer im Norden gilt als sicherer als das Gebiet bei Silivri im Westen, wo nicht nur das größte Gefängnis der Türkei steht, sondern auch die Bruchzone am nächsten am Ufer liegt. Wo ist Fels im Untergrund? Das ist gut. Wo Schwemmland? Das ist schlecht. Das Umfrageinstitut Areda Survey hat 1603 Leute in Istanbul befragt, ob sie ihre Wohnung noch für sicher halten. Sieben von zehn tun das nicht.

Türken lieben Umfragen. Sie verrieten auch, an wen oder was sie zuerst bei dem Beben dachten: Bei 55 Prozent waren es die Kinder, nur knapp vier Prozent sorgten sich zuallererst ums eigene Haus. Jeder Zweite war sauer auf die Handynetzanbieter, weil deren Dienste nach dem Erdstoß für Stunden ausfielen, als alle telefonieren wollten. Inzwischen hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan die GSM-Anbieter aufgerufen, ihre Netze zu verstärken.

Was ist eigentlich mit dem Geld aus der vor 20 Jahren eingeführten Erdbebensteuer geschehen?

Über 300 Nachbeben gab es bisher, das stärkste mit 4,1, und das politische Nachbeben ist auf der Richterskala gar nicht messbar. "Zehntausend" Notsammelplätze gebe es in der Stadt, sagte Erdoğan. Da waren wohl die Schulhöfe mitgerechnet.

Die Stadtverwaltung, nun von dem Oppositionspolitiker Ekrem Imamoğlu angeführt, hält dagegen: Es sind viel weniger. Denn echte Sammelstellen müssten mit dem Nötigsten zur Erstversorgung ausgerüstet sein. 1999 waren das in Istanbul noch 470, heute nur 77, auch weil so viele Einkaufszentren gebaut wurden, sagt die Stadt. Abhilfe sei sofort nötig. Der staatliche Katastrophenschutz führt auch 2864 Parks oder ähnliche Freiflächen auf.

Der Oppositionsabgeordnete Gürsel Tekin wiederum fragt, was mit dem Geld aus der vor 20 Jahren eingeführten Erdbebensteuer geschehen sei? Sie wird mit den Handyrechnungen bezahlt. Tekin glaubt, die Einnahmen wurden für den Autobahnbau und neue Expressbahnen verwendet.

Emin Şirin war Abgeordneter von Erdoğans AKP, ist aber ausgetreten, er sagt: "Einige öffentliche Gebäude wurden verstärkt, Brücken, Schulen und Krankenhäuser. Aber was ist mit dem Rest der Stadt? Mit den historischen Gebäuden, der Hagia Sophia?"

Wer könnte sie wieder aufbauen?

Şirin hatte schon 2002 um Hilfe der Unesco zum Gebäudeschutz gebeten. Da war er noch im Parlament und die Erinnerung an das verheerende Beben von 1999 in der Nähe Istanbuls frisch. Das hatte eine Stärke von 7,6. Es gab mehr als 17 000 Tote. Der 70-Jährige schimpft auf den "nahöstlichen Fatalismus".

"Die Energie sammelt sich an und will heraus", sagt der Chef der Erdbebenwarte, und "es ist ein wissenschaftliches Faktum, dass ein Erdbeben im Marmarameer eine Stärke von sieben oder mehr haben wird". Nicht einig sind sich die Experten, ob mehrere schwächere Beben die Spannung abbauen, oder eben nicht. Wenn es passiert, gibt es gerade mal ein paar Sekunden Vorwarnungszeit. Das reicht, um das Gas abzuschalten. Brände, sagen die Experten, könnten gefährlicher sein als das Beben.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4623437
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 02.10.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.