Süddeutsche Zeitung

IHK warnt vor Corona-Auswirkungen:Handwerk auf Distanz

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An der Berufsschule fällt die Praxis seit drei Monaten flach, in den Betrieben aber geht die Ausbildung weiter. Lehrstellen gibt es noch genug. Grund zur Entwarnung ist das aber nicht.

Von Veronika Ellecosta, Bad Tölz-Wolfratshausen

Normalerweise würde Mika Anderssohn seine Donnerstage in der Werkstatt der Berufsschule verbringen und an Maschinen herumschrauben, schweißen oder Programme für Frästechniken schreiben. Der Lehrling im dritten Lehrjahr zum Industriemechaniker besucht die Abschlussklasse Metallbearbeitung. Aber die Staatliche Berufsschule Bad Tölz-Wolfratshausen ist derzeit coronabedingt geschlossen, die Werkstatt steht still und die drei Stunden Fachpraxis wöchentlich fallen für Mika Anderssohn somit flach. In Pandemiezeiten läuft es eben nicht wie normalerweise. Und so spart sich der 21-Jährige immerhin die lange Anfahrt von Warngau nach Wolfratshausen, wie er erzählt. Handwerk bleibt also erst einmal Theorie für ihn - zumindest, was den schulischen Teil der Ausbildung betrifft.

Anderssohn hat sich mittlerweile daran gewöhnt. Schließlich sind die Berufsschüler in Bayern seit bald drei Monaten im Fernunterricht, genauer seit 9. Dezember 2020. Nur die Abschlussklassen haben seit Kurzem wieder Wechselunterricht. In den Ausbildungsbetrieben geht es hingegen weiter wie gehabt. Der Landkreis verzeichnet für das vergangene Lehrjahr trotz Pandemie sogar einen leichten Anstieg an besetzten Lehrstellen.

Weil die meisten Ausbildungen dual gehalten sind, also sowohl in den Betrieben als auch in den Berufsschulen stattfinden, können die Auszubildenden immerhin an vier Tagen in der Woche in ihren Betrieben lernen. Im ersten Lockdown lief die Ausbildungspraxis anders ab, erzählt Mika Anderssohn am Telefon. Die Azubis seien in Wechselschichten eingeteilt gewesen, die eine Hälfte im Betrieb, die andere zu Hause. Letztere Gruppe habe am Computer Maschinensteuerungsprogramme simuliert. Solche Simulationsprogramme kannte Mika schon von der Berufsschule und er ist eigentlich ganz gut damit klargekommen.

1700 Schüler besuchen die Staatliche Berufsschule Bad Tölz-Wolfratshausen. Das klinge erst einmal nach viel, sagt Schulleiter Franz Hampel. Doch die meisten Klassen mit dualer Ausbildung würden nicht Vollzeit beschult. Die drei Stunden Fachpraxis fallen in der digitalen Lehre gerade flach, dafür werden die restlichen Schulstunden ausgedehnt. Der Fernunterricht sei anfangs eine Herausforderung gewesen, sagt Hampel. Die Schule habe einige Besprechungsplattformen ausprobiert, Erfahrungen gesammelt und sei auf den zweiten Lockdown zwar gut vorbereitet gewesen. Ein wünschenswerter Dauerzustand sei das aber nicht, so der Schulleiter. "Die persönlichen Begegnungen machen die Schule aus, und man merkt immer mehr, was fehlt." Immerhin dürfen nun alle Abschlussklassen, die bis 31. Juli ihre Prüfungen haben, im Wechsel in aufgeteilten Gruppen wieder in den Unterricht.

Trotz der Schwierigkeiten der Pandemie blieb die Ausbildungsbereitschaft bei den Betrieben im vergangenen Jahr hoch. Die Agentur für Arbeit Rosenheim verzeichnet für den Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen für das Ausbildungsjahr 2020/21 sogar vier Prozent mehr besetzte Lehrstellen als im Vorjahr. 140 von 800 blieben unbesetzt, weil die Bewerber fehlten. Für Entwarnung ist es aber noch zu früh, mahnt Andreas Ross von der Wirtschaftsförderung des Landratsamts. Inwieweit Corona die Ausbildungssituation beeinflusse, könne man erst im kommenden Herbst feststellen. Denn Lehrverträge würden meist mit einem Jahr Vorlauf abgeschlossen. Und auch Alexandra Scholz von der Industrie- und Handelskammer (IHK) für München und Oberbayern rechnet damit, dass besonders gebeutelte Branchen in Zukunft Ausbildungsplätze nicht mehr im bisherigen Umfang anbieten werden.

Schwierig sei es derzeit auch für die Bewerber selbst, sagt Scholz, weil Berufsorientierungstage an den Schulen, Ausbildungsmessen und Schnupperpraktika in den Unternehmen komplett ausfallen. Die Arbeitsagentur und die Landratsämter im Oberland haben deshalb digitale Angebote geschaffen, und größere Unternehmen bieten online einen ersten Einblick in die Ausbildung. Auch das Programm der IHK-Ausbildungsscouts hat sich angepasst: Die Lehrlinge im zweiten und dritten Lehrjahr berichten gewöhnlicherweise in den Klassen von ihren Erfahrungen. Diesen Sommer werden die Scouts Interessierte in sogenannten Webinaren am Bildschirm erreichen.

Frustriert zeigt sich Michael Messerschmidt, Vorstandvorsitzender der Tölzer Coaches. Der Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, Mittel- und Berufsschüler mit schwachen Leistungsergebnissen beim Schulabschluss und beim Einstieg ins Berufsleben zu betreuen. 25 bis 30 Schüler waren das im Jahr. Während die ehrenamtlichen Trainer im Frühling 2020 ihre Coachings noch online fortsetzen konnten, liegt im aktuellen Schuljahr alles brach. Die Tölzer Coaches planen aber, im kommenden Schuljahr wieder mit dem Hilfsprogramm einzusteigen. Darauf setzt Messerschmidt seine Hoffnungen. Denn er befürchtet, dass jene Schüler, die Coachings brauchen, sonst noch weiter abgehängt werden.

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SZ vom 01.03.2021
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