Süddeutsche Zeitung

Icking:Der Archivar und die Nazis im Isartal

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Der Ickinger Peter Schweiger bewahrt Dokumente auf, die in der Diskussion um historisch belastete Straßennamen wichtig werden dürften.

Von Claudia Koestler, Icking

Viele verbinden mit dem historischen Icking im Isartal vorwiegend die Sommerfrischler und Künstler, die in der Kommune lebten und wirkten. Doch jüngst geriet Icking wegen seines Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in die Schlagzeilen: Paul Wenz, nach dem eine zentrale Straße im Ortskern, der "Wenzberg", benannt ist, war Mitglied der NSDAP, der NS-Volkswohlfahrt und der SA, wo er als Truppführer fungierte. Zudem war er Ortsgruppenschulungsleiter und Landesleiter der Reichskammer der bildenden Künste beim Landeskulturwalter Gau München/Oberbayern.

Der Gemeinderat hat nach dem Bekanntwerden der NS-Funktionen von Wenz beschlossen, einen Arbeitskreis zu gründen, der professionell von einem externen Experten unterstützt und begleitet werden soll. Der Arbeitskreis soll die Straßen im Ort beleuchten, die Namen von NSDAP-Mitgliedern tragen. Offen ist aber noch die Frage, inwieweit die Gemeinde die NS-Zeit insgesamt aufarbeiten wird. Dreh- und Angelpunkt der Arbeiten und Recherchen wird das Ickinger Gemeindearchiv sein. Dort ist der 74-jährige Peter Schweiger seit 1999 ehrenamtlich als Archivar der Kommune tätig.

Im ersten Stock des Rathauses, in einem Raum, der früher einmal der Sitzungssaal war, fällt eine kleine Glasvitrine ins Auge: Darin einige wenige Fundstücke aus der Gemeinde, nicht genug für ein Heimatmuseum, aber doch ausstellungswürdig: Ein eisernes Rapier aus dem 16. Jahrhundert etwa. Das Schwert wurde 1968 beim Wasserleitungsbau am Irschenhauser Weiher gefunden. Dazu eine Speerspitze, ein paar kunstvolle Ofenkacheln vom Lechnerhof, der dort stand, wo in Kürze der Supermarkt gebaut werden wird. Der kleine Grabstein eines Isartalbahners neben dem Versuch eines Gemeindewappens: Ein Glasbild mit Schimmel, Speer und Baum. Es fiel durch, weil es nicht genug Ortstypisches abbildete. Ein anderes Wappen zeigt den Gastner-Pudel, der so manchen Bürger noch nächtens verfolgte, nachdem er schon nicht mehr war. "So etwas wie der Hund von Baskerville von Icking", lacht Schweiger.

Doch den Raum dominiert und bestimmt etwas anderes: In schmucklosen Regalen stapeln sich Hunderttausende Dokumente, fein säuberlich in graue Kartons verpackt, in Regalen gestapelt und ordentlich durchnummeriert. Wo was drin ist, steht in zwei schmalen blauen Aktenordnern, die "Findbücher", den "Kern eines jeden Archivs", wie Schweiger erklärt. In den Findbüchern sind die Inhalte in Stichworten notiert, geordnet nach einem Aktenplan, dem Alphabet und dem Jahr. "Akribische Ordnung gehört dazu. Ist einmal etwas falsch abgelegt, findet man es nie wieder", sagt Schweiger. Deshalb laufen alle Recherchen über ihn: Er sucht den betreffenden Aktenordner heraus, nur vor Ort im Archivraum kann recherchiert werden, etwas mit nach Hause zu nehmen ist ausgeschlossen. Schüler, Familienforscher und historisch Interessierte rufen bei Schweiger zu Hause an, vereinbaren einen Termin. Der Archivar bleibt während der Recherche mit im Raum, "denn ich habe ja auch beratende Funktion, manchmal muss man recht vernetzt denken, um etwas zu finden".

Der 2006 gestorbene Ickinger Bürgermeister Hubert Guggenmos hatte Schweiger 1998 gefragt, ob er das Amt des Archivars übernehmen könne. Zunächst ging es vor allem um das Archiv der 1978 eingemeindeten, davor selbständigen Gemeinde Dorfen. Die alten Unterlagen waren im Keller des Feuerwehrhauses verwahrt und mussten gesichert werden. Die Ickinger Dokumente wurden erst entdeckt, als das frühere Rathaus abgerissen wurde. Im Dachstuhl einer Mansarde waren die Akten unter die Sparren geschoben gewesen, Arbeiter hatten manche bereits in den Container geworfen, als der damalige Bürgermeister Hans Stocker eingriff und sie rettete. "Teils waren die Dokumente erheblich verschimmelt", erinnert sich Schweiger, der sich vehement dafür einsetzte, eigene Räume für den Aufbau eines ordentlichen Gemeindearchivs zu erhalten. "Spätestens seit der Wenz-Debatte dürfte jedem klar sein, wie wichtig ein Archiv ist", sagt er.

Drei Jahre dauerte es, bis Schweiger die Akten gesichtet und die Findbücher erstellt hatte. Wie viele Stunden er damit verbrachte, kann er heute nicht mehr sagen - "aber es waren viele Abende und Wochenenden". Die Anfragen, die ihn seither erreichten, kamen von den unterschiedlichsten Leuten: vom Familienforscher bis hin zum Wissenschaftler.

Dass derzeit in der Gemeinde die Wenz-Debatte so hochkoche, daran sei er "nicht ganz unschuldig", gibt Schweiger zu. Bei den Recherchen von Karin Teufl, Leiterin des Garmischer Museum Aschenbrenner, zur Ausstellung über die Kinderbuchillustratorin und Ehefrau von Paul Wenz, Else Wenz-Viëtor, waren sie auf die NS-Verstrickungen des Ehepaars Wenz gestoßen. Gemeinsam kamen sie laut Schweiger zu dem Schluss, "dass man die Ergebnisse nicht negieren kann". Es sei ihm aber auch bewusst gewesen, "das kann Wirbel geben." Dass ihm der Ickinger Christoph Kessler, Gründer des Vereins Klangwelt Klassik und Mitglied der SPD, mit der Öffentlichmachung der Wenz'schen NS-Vergangenheit zuvor kam, nachdem dieser in einem SZ-Artikel über die Ausstellung davon las, berührt Schweiger kaum. "Ich nehme es, wie es ist. Ich habe kein Problem damit, wie es öffentlich wurde. Nur mit manchen Formulierungen und Unterstellungen." Schweiger betont: "Eine sachlichere Diskussion wäre dienlich." Wann er selbst mit den Rechercheergebnissen an die Öffentlichkeit gegangen wäre, dazu habe er sich keine Zeitschiene gesetzt. Seine Warnung in der jüngsten Gemeinderatsdebatte um die weitere Aufarbeitung der Ickinger NS-Zeit, man werde "in ein Wespennest stechen", will er rein auf das Private bezogen sehen. Im Archiv schlummern seines Wissens nach keine unentdeckte oder gar verschwiegene Skandale. "Ich bezog das darauf, dass manches in private und familiäre Bereiche gehen werde. Die Menschen haben Angst, dass in persönlichen Bereichen umhergeschnüffelt wird - und das ist nicht Sinn der Sache". Ihm seien im Archiv Ickings keine Dokumente bekannt, "die so heiße Eisen sind, dass die Öffentlichkeit nicht davon wissen darf."

Hochinteressante Geschichten, die eine intensivere Aufarbeitung wert wären, lassen sich indes zuhauf finden: In der kommenden Woche etwa wird ein Interessierter explizit zur Bhagwan-Bewegung forschen. Diese hatte sich 1982 in einem Nebengebäude der Villa Eggenberg, die damals zur Stiftung Wissenschaft und Forschung gehörte, ein Meditationszentrum eingerichtet. Orange gewandete Sannyasins in der Gemeinde, das ging den Isartalern zu weit: Sie protestierten, bis die Sekte die Pläne wieder aufgab.

Gert Fröbe hingegen kaufte sich mit der Gage aus dem James-Bond-Film "Goldfinger" jenes Haus in Walchstadt, in dem zuvor die Frauenrechtlerin Anita Augspurg gewohnt hatte. "Mein Groschengrab" habe Fröbe das Haus liebevoll bezeichnet, erinnert sich Schweiger. Er behandelte den Filmstar nicht nur als Zahnarzt, sondern war auch mit ihm befreundet.

Schweiger selbst wurde in München geboren und lebte bis zu seinem zwölften Lebensjahr in Wolfratshausen. Sein Vater kaufte 1941 ein Grundstück in Irschenhausen. Von 1954 an ging Schweiger in Icking ins Gymnasium, "deshalb fühle ich mich hier stark verwurzelt". Vor etwa 30 Jahren entdeckte er seine Leidenschaft für Geschichte im Allgemeinen und für Ortsgeschichte im Besonderen. "Irgendwann kommt man drauf, dass man nicht weit gehen muss für interessante Historie", sagt er. Schweiger begann, alte Postkarten aus Icking zu sammeln, später auch alte Fotos.

"Reines Hobby und Privatvergnügen" sei das damals gewesen. Heute ergänzt seine zum Privatarchiv angewachsene Sammlung an Fotos, Postkarten und Dokumenten das gemeindliche Archiv. Bei ihm zu Hause lagern rund 30 000 Fotos und Reproduktionen sowie knapp 800 Postkarten, die ältesten aus dem Jahr 1890, in einem metallenen Archivschrank. In Bücherregalen stehen zudem Aktenordner, fein säuberlich sortiert, darin Dokumente, die nach Häusernamen geordnet sind.

Eine Gästeliste aus der Pension "Haus am Hügel" gibt es heute nicht mehr. Doch es ist laut Schweiger "Ortswissen, dass bei der damaligen Pensionsbetreiberin, der Opernsängerin und "strammen Nationalsozialistin Gertrud Heinke gelegentlich Adolf Hitler urlaubte". Schon zieht Schweiger einen weiteren Ordner aus dem Regal, darin ein leicht vergilbtes Buch, das Gästebuch der ehemaligen Pension Hoffmann: Rudolf Heß hat sich als Gast eingetragen.

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Quelle:
SZ vom 15.03.2017
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