Umgang mit "Reichsbürgern":Der Rassist von nebenan
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Von Martin Bernstein
Es war einmal "eine sehr ruhige und nette Hausgemeinschaft". So erinnern sich die Mieter eines Hauses im Münchner Osten in einem Brief an ihre Wohnungsgesellschaft mit dem Slogan "Wir vermieten Heimat". Doch diese Heimat ist für einige der Mieter zu einem Ort der Angst geworden. Die Opfer wollen weder ihren Namen noch die Straße, in der sie leben, in der Zeitung lesen, noch nicht einmal den Stadtteil. So groß ist die Angst.
Der Horror begann im Februar vergangenen Jahres. "Ausländer raus" hatte jemand eines Tages mit dickem schwarzen Stift an der Tür eines betagten Ehepaars gekritzelt. Und als wäre die Parole nicht schon deutlich genug, hatte der Unbekannte ein großes Hakenkreuz daneben gemalt.
Die Familie sagt heute, sie habe den Vorfall damals nicht ernst genommen. "Wir dachten, dies haben Jugendliche gemacht, da wir vorher nicht mit ausländerfeindlichen Dingen zu tun hatten." Schnell machten sie die Tür wieder sauber, die Schmierereien waren schwer zu entfernen. Aber sie sollten rasch verschwinden.
"Es war der Familie peinlich", sagen Berater des Münchner Vereins Before. Dass die Opfer sich für derartige Verunglimpfungen schämen, sei nicht selten. Das wissen die Experten aus anderen Fällen. Before hilft Opfern rechter Gewalt und betreut inzwischen auch die Familie aus dem Münchner Osten. Denn das Hakenkreuz an der Tür war erst der Anfang.
Ein Jahr später, im Februar 2017, steht der Angreifer selbst vor der Tür der Familie. Kein dummer Junge, kein Halbstarker - der Nachbar von nebenan. In einer Anzeige an die Polizei schildert die Familie, wie er an die Haustür hämmert und schreit: "Kanaken, ich werde euch ausräuchern. Ich werde euch fertigmachen." Und wieder die Parole: "Ausländer raus." Dann schmeißt der Mann den Rollator des schwerkranken Mieters die Treppe hinunter und verlässt das Haus.
Die Familie wendet sich an die nahe gelegene Polizeiinspektion. Am selben Abend kommen vier Polizisten, befragen die Opfer und eine Nachbarin. Den Angreifer selbst treffen sie nicht an. Doch an seiner Wohnungstür steht, wieder mit schwarzem Filzstift: "Nach dieser Tür fängt das Deutsche Reich an. Nach dieser Tür ist Freies Deutschland! Wer eintritt muß mit Konsequenzen rechnen!"
Was dann passiert, muss aus zwei Perspektiven erzählt werden. Da ist die der verängstigten Familie. Die Polizisten sind weg, irgendwann wird der Nachbar zurückkommen. Und dann? Aus Sicht der Polizei passiert dagegen sofort das Richtige. "Die Beamten haben sehr gut reagiert", sagt Polizeisprecher Christoph Büchele. Sie fotografieren die Aufschrift auf der Tür und melden den Vorfall im Polizeipräsidium bei der Ermittlungsgruppe "Reichsbürger".
Die Attacken auf das Ehepaar gehen weiter
Die Experten der Kriminalpolizei haben seit vergangenem Jahr jede Menge zu tun. 501 Verdachtsfälle sind seither auf ihren Schreibtischen gelandet. 271 Personen aus Stadt und Landkreis München konnten bis jetzt als Anhänger der "Reichsbürger"-Ideologie identifiziert werden. Darunter jener Garchinger, der sich Ende Mai in seiner Wohnung selbst tötete, möglicherweise, weil er seine Waffen abgeben sollte.
In 137 der überprüften Fälle war laut Polizeisprecher Thomas Baumann eine Zugehörigkeit zu einer jener oft rechtsextremen, verschwörungstheoretischen und geschichtsrevisionistischen Gruppen, die die Bundesrepublik und ihre Organe nicht anerkennen, auszuschließen - was nicht automatisch bedeutet, dass die betreffenden Personen nicht doch dem rechtsextremen Milieu nahe stehen, nur eben nicht als "Reichsbürger". 93 Verdachtsfälle sind noch offen. Einer ist seit Februar der Mann aus dem Mietshaus im Osten der Stadt.
Während sein Fall also der Ermittlungsgruppe bekannt ist, geschieht der nächste Übergriff. Am 29. März schreit der Mann im Hausflur: "Ausländer raus, sonst müsst ihr mit Konsequenzen rechnen." Er demoliert den Rollator, droht seinen Nachbarn damit, er werde sie "umbringen, ausräuchern, aufhängen, aufschlitzen". Wieder kommt die Polizei, spricht mit den Opfern und einer Zeugin und nimmt den Aggressor zum Alkoholtest mit.
Vier Wochen später die nächste, nahezu identische Attacke auf die alten Menschen. Diesmal bedroht der Nachbar den schwerkranken Mann mit der Faust. Die Polizei kommt erneut. Der Mann sei aus der Alkoholikerszene bekannt, sagt ein Beamter den alten Leuten. Und sein Kollege rät den Opfern nach deren Erinnerung: "Gehen Sie ihm aus dem Weg, provozieren Sie ihn nicht." Das Opfer als Provokateur, während die Morddrohung und der tätliche Angriff eher heruntergespielt werden? "Skandalös, aber nicht ungewöhnlich" findet der Verein Before eine derartige polizeiliche Reaktion.
Die Polizei will diesen Satz auf Nachfrage weder bestätigen noch kommentieren. Es sei jedoch richtig, dass der Angreifer bereits mehr als 50 Mal polizeilich in Erscheinung getreten ist - mit Schwarzfahren, Drogendelikten, Bedrohungen, Körperverletzungen. Bekannt ist auch, dass er der militanten Hooliganszene des TSV 1860 München zuzurechnen ist. Staatsschutzdelikte aus dem politischen rechten Bereich hat der Münchner sich bislang jedoch nicht zuschulden kommen lassen. Jedenfalls keine, die es bis in die Akten der Polizei geschafft hätten.
Die von ihm terrorisierte Familie jedoch berichtet von lauter rechtsextremer Musik, die aus der Wohnung des Nachbarn zu hören sei, wenn dieser mit Freunden feiere. Und von "Heil Hitler"-Rufen. Auf Facebook gefällt dem Verdächtigen eine islamfeindliche Seite, die gegen nahezu alle Parteien hetzt - mit Ausnahme der AfD. Auch für die Polizei gibt es kaum noch Zweifel, dass der Mann politisch rechts einzuordnen ist.
Aber ist er auch ein "Reichsbürger"? Und wenn ja, welche Konsequenzen hätte das? Die verdächtige Aufschrift auf seiner Tür hat der Mann rasch beseitigt. Der nächste aktenkundige Vorfall aus dem Haus landet dann auch nicht auf dem Schreibtisch der Staatsschützer, sondern in einem anderen Kommissariat, das für Vorfälle aus dem Münchner Osten zuständig ist. Und der "Reichsbürger"-Verdacht? Ist einer von 93 Fällen, die noch abgearbeitet werden müssen.
Das Ehepaar ist am Ende seiner Kräfte. Die alten Leute fühlen sich von der Polizei allein gelassen. In ihrer Verzweiflung wenden sie sich an die Opferberatungsstelle Before. Als die Experten die Polizei auf den Fall aufmerksam machen, kommt Bewegung in die Sache. Die für Prävention und Opferschutz zuständigen Beamten versuchen Kontakt zu dem Ehepaar aufzunehmen, das scheitert zunächst.
Am schlechten Gesundheitszustand des alten Mannes, sagt die Polizei. An der Enttäuschung der Familie über die von ihr als Untätigkeit empfundene Arbeit der Kriminalpolizei, sagt Before. Im Polizeipräsidium bekommt der Fall des mutmaßlichen "Reichsbürgers" jetzt immerhin höchste Priorität. Anfang Juni bekommt der Mann in seiner Wohnung erneut Besuch von der Polizei.
"Gefährderansprache" heißt das im Polizeijargon. Einem potenziellen Straftäter soll so deutlich gemacht werden, "dass polizeiliches Interesse an seiner Person besteht, die Gefährdungslage bei der Polizei registriert wird und die Lage ernst genommen wird". Außerdem erhofft die Polizei sich Hinweise darauf, ob sie es tatsächlich mit einem "Reichsbürger" zu tun hat. Argumentiert der mutmaßliche Täter ideologisch? Was weiß er überhaupt über die "Reichsbürger" und deren krude Gedankenwelt?
Kann er vielleicht statt eines Reisepasses oder Personalausweises lediglich einen Staatsangehörigkeitsausweis vorlegen? Der "gelbe Schein" ist das einzige amtliche Dokument, das "Reichsbürger" anerkennen, weil er auf ein Gesetz aus dem Jahr 1913 zurückgeht. 321 dieser normalerweise kaum benötigten Dokumente wurden vergangenes Jahr in München beantragt, mehr als 3600 in ganz Bayern.
Ein rechte Gesinnung alleine sei nicht strafbar
Offenbar finden die Beamten nichts dergleichen. Der Mann sei ein notorischer Straf- und Gewalttäter, oft unter Alkoholeinfluss. Und ja, bestimmt habe er eine rechte Gesinnung - aber die allein sei nicht strafbar. Doch ein "Reichsbürger" sei der Mann vermutlich nicht, heißt es aus dem Polizeipräsidium. Die Überprüfung und natürlich auch die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihn gingen aber weiter, bestätigt Polizeisprecher Thomas Baumann.
Ob das reicht? Ob die beiden alten Menschen und ihre Mitbewohner im Münchner Osten sich dort jemals wieder so daheim fühlen können wie vor dem Februar 2016? Ob sie sich eines Tages wieder ohne Angst in den Hausflur trauen? Vielleicht, wenn Polizei und Justiz dem Aggressor am Ende genug nachweisen können, um ihn für eine Weile aus dem Verkehr zu ziehen. Vielleicht, wenn eine Räumungsklage irgendwann Erfolg hat, von der Before weiß.
Die Wohnungsgesellschaft versichert jedenfalls, ohne Details zu nennen, dass sie "in dieser Angelegenheit alle erdenklichen Maßnahmen, soweit rechtlich zulässig, ergriffen" habe. "Wir sind alle verängstigt", schreiben die Mieter flehentlich. "Wir sind alt, behindert und kraftlos. Wir bitten, den Hausfrieden herzustellen."