Süddeutsche Zeitung

Ukraine-Flüchtlinge in München:Übersetzen, bis die Kraft ausgeht

Lesezeit: 4 min

Viele Geflüchtete aus der Ukraine beherrschen weder Deutsch noch Englisch. Das Übersetzen übernehmen zum großen Teil Freiwillige - oft neben ihrem Vollzeitjob. Was das mit ihnen macht.

Von Nadja Tausche

"Eigentlich wäre jetzt die Zeit, in der ich fleißig an meiner Doktorarbeit schreibe", sagt Nadiia Klymchuk, 37. Die Ukrainerin lebt seit 2010 in Deutschland, ist damals zum Studieren hergezogen. Doch bei ihrer Promotion legt sie momentan eine Pause ein, um in Kooperation mit der Caritas am Münchner Hauptbahnhof zu übersetzen. Klymchuk erklärt Geflüchteten, wo sie sich registrieren können oder wo sie Essen bekommen. Wer weiterreisen will, den begleitet sie zum Reisezentrum. In den vergangenen vier Wochen sei sie beinahe jeden Tag an Ort und Stelle gewesen, erzählt Klymchuk.

Dolmetscherinnen und Dolmetscher sind oft die ersten Menschen, mit denen Geflüchtete aus der Ukraine nach der Ankunft in München Kontakt haben. Viele von ihnen sprechen kein Englisch, kein Deutsch, sind müde und überfordert. So erzählen es Helfer. Dass ihnen jemand in ihrer Sprache erklärt, wie es weitergeht, ist für sie essenziell. Nach wie vor werden Menschen mit Ukrainisch- und Russischkenntnissen in München dringend gesucht.

Das müssen keine ausgebildeten Übersetzer sein, betont der Verein "Münchner Freiwillige - wir helfen" in einem aktuellen Newsletter. Es helfe, eine "sprachliche Stütze" zu sein. Der Verein kümmert sich hauptsächlich darum, Geflüchtete in Privatunterkünfte zu vermitteln. Dolmetscher arbeiteten dabei in Schichten von je vier Stunden, erklärt eine Sprecherin: Manche der Freiwilligen seien nur einen Tag dabei, andere für einen längeren Zeitraum. Interessierte können sich über die Website des Vereins in Listen eintragen. Einen Nachweis über ihre sprachliche Qualifikation brauchen sie nicht, dafür einen 3-G-Plus-Nachweis. Angst, dass jemand die Übersetzer-Tätigkeit für zwielichtige Zwecke missbraucht, hat man hier nicht: Beim Vermitteln der Unterkünfte gebe es entsprechende Sicherheitsvorkehrungen, so die Sprecherin.

Viele ehrenamtliche Dolmetscher sind mittlerweile am Ende ihrer Kräfte

Zuletzt hatte auch die München Klinik dringend nach Dolmetscherinnen und Dolmetschern gesucht. Bei der Caritas ist der Bedarf mittlerweile sogar größer als vor einigen Wochen. Als die ersten Geflüchteten angekommen seien, sei die Hilfsbereitschaft immens gewesen, sagt Caroline Hartl. Viele der freiwilligen Dolmetscher hätten sich eigens Urlaub genommen. Der sei aber irgendwann vorüber, außerdem hätten viele irgendwann keine Kraft mehr gehabt. Die Gefahr sei gerade am Hauptbahnhof groß, so die Caritas-Frau: "Da kriegen die Ehrenamtlichen ungefiltert die Ängste und Sorgen ab." Viele hätten selbst Bekannte oder Verwandte in der Ukraine, das mache die Situation besonders herausfordernd. Auch bei der Caritas müssen Dolmetscher keinen Sprachnachweis vorlegen, in Zukunft will man aber ein Führungszeugnis verlangen. Hartl sagt: "Ohne die Ehrenamtlichen würde das System zusammenbrechen."

Eine von ihnen ist Katja Hares, 44. Sie ist Russin und lebt seit 18 Jahren in Deutschland. "Als der Krieg losging, war das für uns alle, auch für Russen, ein großer Schock", sagt sie. Seit drei Wochen übersetzt Hares neben ihrem Job an vier Abenden pro Woche in der Unterkunft in der Riemer Messestadt. Sie fange um 18 Uhr an, erzählt sie, am Vorabend war sie bis 1 Uhr nachts da. In der Messehalle seien die Übersetzer mittlerweile Ansprechpartner für alles: "Wie funktioniert die U-Bahn, wo bin ich überhaupt, wie geht es mit mir weiter?", zählt sie die Fragen auf. Hares hat die Erfahrung gemacht, dass nur ein Bruchteil der Menschen vor Ort Englisch spricht.

Stas Safyan arbeitet tagsüber in seinem Job, nachts dolmetscht er am Hauptbahnhof

Einen noch strammeren Tagesplan hat Stas Safyan. Tagsüber arbeitet der 50-Jährige im IT-Bereich, nachts übersetzt er am Hauptbahnhof. Die Schicht dort geht von 23 bis 7 Uhr. Wann er schlafe? "Ein bisschen vor der Arbeit, ein bisschen nach der Arbeit, ich brauche nicht so viel Schlaf", sagt er, sein Chef unterstütze sein Engagement. "Man hat keine Freizeit wie früher, dafür hat man das Gefühl, dass man jemandem geholfen hat." Außerdem sei "das Loch" durch die Tätigkeit nicht mehr so präsent. Damit meint er das Gefühl, das er hat, seit der Krieg in der Ukraine begonnen hat: "Man ist irgendwie machtlos, unendlich traurig", sagt der Ukrainer, der 2000 nach Deutschland kam. Die Nachtschichten macht er nun den zehnten Tag in Folge, künftig will er nun regelmäßig zwei Tage Pause machen.

Safyan übersetzt im Auftrag des Sozialreferats. Dort hat man den Pool an Dolmetschern für Ukrainisch und Russisch zuletzt deutlich aufgestockt: Aktuell vermittle die Koordinationsstelle das Fünf- bis Sechsfache des normalen Bedarfs, berichtet Referatssprecher Frank Boos. Eingesetzt werden sie am Hauptbahnhof, aber auch im Ankunftszentrum an der Seidlstraße, im Wohnungsamt und in den Sozialbürgerhäusern. Sie arbeiten dabei auf freiberuflicher Basis, bekommen also Geld für ihre Tätigkeit und müssen entsprechende Sprachnachweise vorlegen.

Nur: Müsste man nicht alle Helfer bezahlen? Die Ehrenamtlichen seien "für die Bewältigung der aktuellen Herausforderungen unverzichtbar", so Boos. Eine Finanzhilfe zöge aber eine Überprüfung und damit Wartezeit und bürokratischen Aufwand nach sich. Zudem sei Ehrenamt quasi per Definition unentgeltlich. Ähnlich sieht das Katja Hares. Eine Bezahlung würde das Ganze eher komplizierter machen, sagt sie: Sie müsste die Tätigkeit dann mit ihrem Arbeitgeber absprechen, sich um Steuer- und Sozialversicherungsfragen kümmern. "Wir genießen es, dass man uns diese Möglichkeit gibt", so sieht sie das. Caroline Hartl von der Caritas dagegen findet, freiwillige Dolmetscher sollten "auf jeden Fall" irgendeine Art von Bezahlung bekommen.

Ein alter Mann hat als Kind schon von Amsterdam geträumt , und nun fährt er tatsächlich hin

Von einschneidenden Erlebnissen während ihrer Tätigkeit können die Dolmetscher so einiges erzählen. Am eindringlichsten sei ihr ein älterer Herr in Erinnerung geblieben, erzählt Nadiia Klymchuk: 76 Jahre alt, aus einem ukrainischen Dorf geflohen, er habe keine E-Mails gekannt. Im Gespräch sei herausgekommen, dass er schon als Kind von Amsterdam geträumt habe. "Ich habe dann gesagt, das ist eigentlich alles realistisch", sagt Klymchuk. Sie besorge das Ticket, dann könne er hinfahren. Als die Leute im Reisezentrum gefragt hätten, wann er reisen wolle, habe er gesagt: sofort. Klymchuk sagt, sie habe ihn noch überreden wollen, sich etwas zu essen und trinken zu besorgen, er habe nur zwei Plastiktüten dabei gehabt. "Für ihn war das total nebensächlich" erzählt sie, so sehr habe ihn der Gedanke eingenommen, bald in Amsterdam zu sein. Aber, sagt Nadiia Klymchuk, sie müsse schon sagen - sie habe auch viele traurige Geschichten erlebt.

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