Süddeutsche Zeitung

Tatort:Betrunken im Einsatz? Das gibt es nur im Film

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Von Martin Bernstein

Um Mitternacht war bei den Tatort-Kommissaren schon längst Schicht im Schacht, Leitmayr vermutlich im schicken Trainingsanzug vor der Mörder-Pinnwand eingeschlafen, Batic unterwegs in den Erholungsurlaub nach Kroatien. Und der Mörder? Der war immer noch irgendwo da draußen, wie die frustrierten Kommissare im Münchner Tatort am Sonntag wähnten. Die Aufregung über das tatortuntypische offene Ende hatte sich auch schon längst gelegt, weil die ARD ihrer eigenen Schneid nicht traute und einen Spoiler twitterte - dass es nämlich im nächsten Jahr weitergeht. Mit dem Fall und vermutlich mit dessen Auflösung. Der Vorhang also vorerst zu - und doch so viele Fragen offen.

Weswegen in der Social-Media-Abteilung des Polizeipräsidiums zu nachtschlafender Stunde noch Licht brannte. Die echten Polizisten hatten den ungewöhnlichen Tatort-Fall auf Twitter begleitet. Und während der Abspann lief, schrieben Florian Hirschauer, Markus Ellmeier und Oliver Timper: "Wir sind von Eurem Interesse überwältigt. Aktuell haben wir noch 600 offene Fragen zu beantworten. Bitte habt etwas Geduld." Es dauerte bis 0.10 Uhr, ehe alle Fragen abgearbeitet waren. Fazit der Polizei: "Entspannte 90 Minuten für den Faktenchecker. Gut recherchiert & spannend."

Wenn das wirklich stimmt, dann mag man gar nicht wissen, welcher Unfug den Krimi-Zuschauern sonst so vorgeführt wird. Denn die Münchner Polizisten hatten durchaus genug damit zu tun, der Welt zu erklären, dass es bei ihnen dann halt schon ein bisschen anders zugeht als im Hause Batic, Leitmayr und Co. Dass Vernehmungen im Polizeipräsidium in ganz normalen Büros stattfinden. Dass Kommissare Tatwaffen nicht einfach so antatschen. Dass sie nicht angetrunken zum Zwei-Mann-Einsatz beim Tatverdächtigen ausrücken. Dass sie nicht zum privaten Abendessen zu Zeugen gehen. Dass sie keine kleinen Kinder mal so eben nebenbei auf dem Präsidiumsflur befragen. Und Polizeipsychologe Markus Hoga, 51, vom Kommissariat 16 für operative Fallanalyse dürfte über die nahezu hellseherischen Fähigkeiten seiner Profiler-Kollegin im TV gestaunt haben.

Zusammen mit Herbert Linder, Vizechef der Mordkommission, und Harald Bayer, Außendienstleiter im Abschnitt Mitte, unterzog Hoga den TV-Plot einem Faktencheck. Dass Fiktion und Wirklichkeit nicht so recht zusammenpassen können, hatten die Münchner Präsidiumstwitterer schon zugegeben, als die Fernsehzuschauer noch Rotwein und Käsewürfel bereitstellten und es sich allmählich auf der Couch bequem machten: "Würde Kollege Faktenchecker einen Film drehen: Dramaturgisch unterdurchschnittlich + Überlänge #nominiertfürgoldenehimbeere."

Im Vorfeld war ja viel die Rede davon gewesen, dass der gezeigte Fall Parallelen zum bis heute nicht aufgeklärten Isarmord an Domenico L. vor dreieinhalb Jahren aufweise. Einigen Fernsehzuschauern fiel das auch auf, die Nachfragen zum realen Fall hielten sich aber in Grenzen. Wohl auch deshalb, weil sich der TV-Plot mit seinen immer unglaublicheren Wendungen in Riesenschritten vom real existierenden Verbrechen entfernte. Umso mehr waren die Zuschauer an der wirklichen Polizeiarbeit interessiert - von der Frage, ob es schon erste blaue Streifenwagen gibt (ja, gibt es) bis hin zur Beweismittelsuche im Müll. "Hunderte Müllsacke untersuchen? Klingt eigenartig, aber haben schon ganze Mülldeponien durchwühlt", twittern die Polizisten. Beispielsweise beim spektakulären Fall des Westend-Entführers. Dort kam die Polizei im Müll auf die entscheidende Spur, die Verpackung einer Handy-Sim-Karte.

Zusätzlich lieferte das Team Zahlen aus München: 26 versuchte und acht vollendete Tötungsdelikte 2015, 32 davon aufgeklärt, nur 18 Prozent der Täter - wie im Film - nicht aus dem Verwandten- oder Bekanntenkreis. Und kurz vor 21 Uhr, die Geschichte hängt grad ein bisschen durch, liefert die Polizei den Beweis, dass Fiktion und Wirklichkeit sich doch manchmal berühren: "Die echten Polizeiausweise von Batic und Leitmayr werden übrigens in der Ettstraße verwahrt und nur für den Dreh ausgegeben."

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SZ vom 25.10.2016
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