Süddeutsche Zeitung

Kolonie am Ammersee:Die ersten Störche beziehen schon die Horste

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Immer mehr Vögel kehren früher aus ihren Winterquartieren in Portugal oder Spanien zurück. Sie können sich in Dießen und Raisting die besten Horste und Reviere aussuchen.

Von Armin Greune, Dießen/Raisting

In Dießen sind bereits alle Quartiere belegt. Ob es dieselben Bewohner sind wie im vergangenen Sommer, lässt sich freilich nicht zweifelsfrei sagen. Selbst für Franz Sanktjohanser sieht ein Weißstorch aus wie der andere, "nur die Männchen sind um 20 Prozent größer". Seit zehn Jahren bietet der für seine Tierliebe bekannte Gemeinderat an seinem Haus in der Fischerei einen Stahlkorb auf einer Stange als Nisthilfe an: "Heuer ist er vor zwei Wochen gekommen, sie flog eine Woche später ein." Auch für die beiden anderen Horste im Ort haben sich schon Paare gefunden: Auf dem Hausdach an der Herrenstraße landete der erste Storch vor drei Wochen, der vorerst letzte ließ sich am vergangenen Samstag auf der Mädchenrealschule nieder.

Die Klimaerwärmung hat indirekt dazu beigetragen, dass sich immer mehr Störche im Fünfseenland und Pfaffenwinkel heimisch fühlen. Und sie kehren immer früher aus den Winterquartieren zurück: Noch vor dem meteorologischem Frühjahrsbeginn sind die meisten Horste schon besetzt. Im Vergleich zu ihren Ahnen ziehen viele Weißstörche längst nicht mehr so weit in den Süden: Anstatt die kalten Monate südlich der Sahara zu verbringen, bleiben sie im Rhonedelta, in Portugal oder Spanien - wo sie offenbar eine Vorliebe für Reisfelder und Müllkippen entwickelt haben. Andere gelten gar nicht mehr als Zugvögel, sondern nur noch als sogenannte Winterflüchtlinge: Sie weichen bei Kälteeinbruch und drohendem Nahrungsmangel bloß vorübergehend in mildere Nachbarregionen aus - vom Alpenvorland etwa an den Oberrhein oder in die Schweiz. Und selbst in diesem nicht gerade milden Winter ist wie im Vorjahr einer wieder ganz in Raisting geblieben.

Am vergangenen Wochenende hat Wolfgang Bechtel vom Landesbund für Vogelschutz (LBV) dort 26 Störche in 15 Horsten gezählt. Obwohl der Herrschinger Experte die Raistinger Population schon seit deren Begründung vor 20 Jahren intensiv beobachtet, kann auch er nicht absolut sicher sein, dass er dieses Mal alle Exemplare zu Gesicht bekommen hat: "Wenn ein kalter Ostwind herrscht, ducken sie sich ganz tief ins Nest." Gewiss sei aber, dass in den kommenden Wochen noch einmal ähnlich viele Nachzügler zu erwarten sind. Im vergangen Jahr haben schließlich 22 Paare in Raisting gebrütet, nachdem in so manchem Horst die Besatzung mehrfach gewechselt hatte. Auch für heuer seien "die Konstellationen noch längst nicht komplett abgeschlossen", sagt Bechtel. Störche sind nur bedingt monogam und führen meist bloß eine Saisonehe, sie binden sich eher an den Horst als an den Partner. Die Vögel bevorzugten einen vertrauten Nistplatz: "Dort kennen sie auch die Luftströmungen und die günstigsten Winkel für An- und Abflug".

Im vergangenen Winter hatte sich ein größerer Trupp noch bis in den November und Dezember hinein auf den Wiesen zwischen Weilheim und Polling aufgehalten. Nachdem sich dort die erste Schneedecke gebildet hatte, zogen die meisten ab. Bechtel konnte jedoch den ganzen Winter über immer wieder einen Storch in der Nähe von Raisting erblicken - ob es stets das gleiche Individuum war, ist fraglich. Auch der erfahrenste Ornithologe kann die Tiere nur unterscheiden, wenn sie beringt und die Nummern abzulesen sind. Selbst das Geschlecht offenbart sich meist erst am Paarungsverhalten. In der Regel lassen sich nach dem Winter die Männchen zuerst im Nest nieder und beginnen dort mit Ausbesserungsarbeiten. Die Frühankömmlinge profitieren inzwischen von einer Landwirtschaft, die auch im Fünfseenland auf die Klimaerwärmung reagiert hat: "Etliche Äcker werden jetzt früher umgepflügt", sagt Bechtel, in der aufgebrochenen Erde finden die Störche leichter Nahrung.

Der Verzicht auf die viele tausend Kilometer weite Reise in die angestammten Überwinterungsquartiere bietet den Vögeln auch darüber hinaus entscheidende Vorteile. Zum einen drohen auf dem Zug tödliche Gefahren wie Strommasten, Flugzeuge oder schießwütige Jäger. Zum anderen können die ersten Ankömmlinge daheim erst einmal die besten Horste belegen. Und wenn dann schließlich auch die Konkurrenten aus Afrika eintreffen, sind die von ihren Fernreisen konditionell so erschöpft, dass sie bei Revierstreitigkeiten oft den Kürzeren ziehen.

Sanktjohanser hat vor einem Jahr beobachtet, wie heftig diese Konflikte eskalieren können: "Da fliegen die Fetzen!" Bis zu zehn Störche waren in Dießen an spektakulären Luftkämpfen beteiligt. Dem Hahn, der in der Fischerei nistete, gelang es zwar, seinen Horst zu verteidigen, doch er trug eine blutende Wunde an der Brust davon. Solche Auseinandersetzungen können auch tödlich enden: 2015 etwa brach sich ein Raistinger Storch dabei den Hals.

Die Kolonie südlich des Ammersees ist mittlerweile die größte in Oberbayern, 2021 wurden dort 39 Jungvögel flügge. Im Hochsommer werden allein rund um Raisting einschließlich Durchzügler bis zu 100 Weißstörche gesichtet. Dabei galten Fünfseen- und Oberland lange wegen der Spätfroste als südliche Verbreitungsgrenze für eine dauerhafte Ansiedlung. Erst als im Winter 2004/2005 ein aus französischer Aufzucht stammendes Männchen in Raisting im Winter über durchgefüttert wurde, kam es dort zu einer erfolgreichen Brut. In der Folge wurden im Ort fünf Nisthilfen erreichtet, die sich die Vogelschützer jeweils 2500 Euro kosten ließen. Obwohl fast immer in allen Horsten Nachwuchs schlüpfte, gingen anfangs in jedem zweiten Jahr sämtliche Jungen ein. Seit 2016 aber wird in Raisting stets eine zweistellige Zahl an Jungstörchen flügge.

Ähnliche Erfahrungen musste Sanktjohanser machen: Von 2012 an dauerte es fünf Jahre, bis erstmals ein Paar in Dießen brütete und dann sogar auf Anhieb drei Küken durchbrachte. Auf dem Mast in seinem Garten war 2021 das erste Jahr mit Bruterfolg, die drei Jahre zuvor wurden sämtliche Küken in Dießen Opfer der Eisheiligen oder der Schafskälte. Mehrmals musste er miterleben, wie sie erfroren, ertranken oder verhungerten: "Das schau ich mir nicht mehr an, notfalls bringe ich sie vorübergehend auf dem Balkon unter", sagt Sanktjohanser. Für das Überleben der Küken bei Sauwetter sei entscheidend, in welchem Alter es sie erwischt. Mit etwa sechs Wochen sind sie am empfindlichsten: bereits so gewachsen, dass sie die Eltern nicht mehr "hudern", also unter die Fittiche nehmen können - ihr eigenes Gefieder ist aber dann noch nicht dicht genug, um sie vor der Kälte zu schützen.

Für die Raistinger und Dießener Storchenkolonie ist es deshalb auf Dauer sicher von Vorteil, wenn die Vögel über einen möglichst großen Zeitraum verteilt eintreffen und mit der Brut beginnen: Die Wahrscheinlichkeit ist dann größer, dass nicht alle Jungen auf einmal vom Wetter dahingerafft werden. Sanktjohanser rechnet damit, dass die ersten Weißstörche in Dießen in etwa vier Wochen ihre Eier ablegen. Aber selbst bis dahin kann noch viel passieren: Die letzten Nachzügler treffen am Ammersee meist Ende März bis Ende April ein. Manche schrecken auch nicht davor zurück, die Eier oder Küken eines anderen Paars aus dem Nest zu werfen, um sich selbst ein Quartier zu verschaffen.

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