Süddeutsche Zeitung

Politik:Jeder gegen jeden

Lesezeit: 2 min

Union gegen Ampel, Grüne gegen Freie Wähler: Die ständigen Forderungen nach Neuwahlen und Rücktritten spiegeln das politische Klima wider. Und natürlich hat Hubert Aiwanger auch mal wieder seinen Anteil daran.

Kommentar von Linus Freymark

Um festzustellen, dass politisch etwas aus den Fugen geraten ist, reicht ein Blick auf die Straßen: Die sind zur Zeit nämlich ständig blockiert. Entweder klebt ein orangebewesteter Aktivist darauf oder ein wutschnaubender Traktorfahrer hat sein Gefährt strategisch so positioniert, dass kein Durchkommen möglich ist. Beides nervt. Aber: Die Aufmerksamkeit ist da.

Wer gehört werden will, braucht einen lauten Motor oder einen starken Kleber. Diese Formel hat inzwischen auch die Politik für sich entdeckt. Übersetzt bedeutet das: Ständig kräht irgendwer nach Neuwahlen oder einem Rücktritt. CSU-Chef Markus Söder hat zuletzt die Absetzung der Ampel gefordert, lautstark unterstützt von Parteikollegen wie dem hiesigen Bundestagsabgeordneten Michael Kießling. Der ließ wissen, die Stimmung im Land drohe wegen der Bundesregierung "zu kippen". Dass die einfach mal so rausgehauene Forderung nach Neuwahlen weniger dazu beiträgt, das politische Klima zu besänftigen, sondern vor allem die notwendige Bühne fürs Ampel-Bashing bereitet? Geschenkt.

Doch auch die Regierungsparteien sind nicht vor der neuen politischen Manie gefeit. So machte jüngst eine Mitteilung die Runde mit dem Betreff: "Grüne in den bayerischen Bezirken fordern Entlassung von Hubert Aiwanger". Das lässt aufhorchen. Immerhin hat der Mann - seinem Bruder sei Dank - die Flugblatt-Affäre unbeschadet überstanden, obwohl seine Erklärungen nur neue Fragen statt Antworten lieferten. Was also hat sich der Freie-Wähler-Chef diesmal geleistet? Ist etwa ein neues, noch ekligeres und womöglich sogar aktuelles Pamphlet aufgetaucht?

Nun ja - nein. Vielmehr hat Aiwanger in einem Gespräch mit einem mindestens konservativen und glücklicherweise einigermaßen unbekannten Online-Medium den Satz verlauten lassen: "Viele Grüne sind ein Fall für den Psychiater". Das ist daneben, keine Frage. Und es ist längst nicht das erste Mal, dass Aiwanger Sprüche vom Stapel lässt, die andere Wirtschaftsminister nicht nötig haben, um im Gespräch zu bleiben.

Die Grünen wiederum nehmen die Diagnose des selbst ernannten Hobbypsychiaters nun zum Anlass, dessen Rücktritt zu fordern. Aiwanger würde "die lang andauernden Bemühungen um die Entstigmatisierung der Psychiatrie zerstören", erklärte die als Starnberger Bezirksrätin für solche Themen zuständige Martina Neubauer. Seine "verbalen Entgleisungen" müssten endlich Konsequenzen haben. Es gehe um die Demokratie und den Respekt vor dem Individuum, welcher durch solche Äußerungen zerstört werde. Die Grünen konstatieren: "1933 hat es genau so angefangen."

Echt jetzt? Ja, Aiwanger ist mehr für Polemik als für Sachpolitik bekannt. Aber wegen des Psychiaterspruchs seinen Rücktritt zu fordern, ist ebenso überzogen wie der Schrei nach Neuwahlen aus den Reihen der Union. Mehr Dialog und Sachpolitik, weniger Hysterie, das wär doch was. Aber wer klebt, blockiert und Maximalforderungen stellt, kommt leichter in die Schlagzeilen. Schade eigentlich.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.6334984
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.