Süddeutsche Zeitung

Friedhof am Perlacher Forst:Gegen die Vereinnahmung der Weißen Rose

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Am Ehrengrab der Geschwister Scholl sind mehrfach Verschwörungsanhänger aufmarschiert - nun intervenieren Stadt und NS-Dokuzentrum. In einem neuen "Denkraum" sollen sich Besucher informieren und besinnen können.

Von Patrik Stäbler

Vor zwei Jahren stieg eine junge Frau bei einer Kundgebung von Verschwörungsanhängern in Hannover auf die Bühne und stellte sich als "Jana aus Kassel" vor. "Ich fühle mich wie Sophie Scholl, da ich seit Monaten aktiv im Widerstand bin, Reden halte, auf Demos gehe, Flyer verteile und auch seit gestern Versammlungen anmelde", rief die 22-Jährige ins Mikrofon und bekam dafür Applaus. Ihr historisch absurder Vergleich wurde später vielfach über die sozialen und traditionellen Medien geteilt - ebenso wie die Reaktion eines Ordners, der sich über derlei "Schwachsinn" empörte.

Nun war jene Jana aus Kassel zwar die berühmteste, jedoch keineswegs die einzige, die sich während der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen auf die Widerstandsgruppe Weiße Rose bezog. Auch am Ehrengrab von Christoph Probst und den Geschwistern Scholl auf dem Friedhof am Perlacher Forst traf sich die Szene mehrfach zu Aufmärschen, worauf die Städtischen Friedhöfe im Frühjahr 2021 das Projekt "Denkraum" ins Leben riefen. Gemeinsam mit der Stiftung Weiße Rose, dem Kulturreferat, dem NS-Dokumentationszentrum und der Berufsfachschule für das Holzbildhauerhandwerk sollte gegenüber dem Ehrengrab "ein Ort zum Verweilen und Reflektieren" entstehen. Nun ist dieser "Denkraum" fertig gestellt und der Öffentlichkeit präsentiert worden.

"Wir wollten hier intervenieren", sagte Heino Jahn, Leiter der Städtischen Friedhöfe mit Blick auf die Versammlungen von Verschwörungsanhängern am Ehrengrab der Geschwister Scholl im vorvergangenen Winter. Und da zu dieser Zeit gegenüber der Erinnerungsstätte zufällig ein Grab frei wurde und der Friedhof das danebenliegende ankaufen konnte, sei die Idee entstanden, auf dieser Fläche einen Denkraum zu errichten. Um Vorschläge für dessen Gestaltung zu sammeln, wurde ein Wettbewerb ausgerufen, an dem sich die Schülerinnen und Schüler der Meisterklasse der Holzbildhauer bewerben konnten. Insgesamt wurden neun Entwürfe eingereicht, unter denen sich letztlich das Konzept von Fridolin Bär und Matthias Karré als Sieger durchsetzte.

Ihr "Memorial" soll ein "Ort der Besinnung und Information" sein. "Wir wollen aber auch neugierig machen und die Besucher einladen hineinzugehen", sagte Fridolin Bär bei der Eröffnung des Denkraums. Dieser besteht aus einer u-förmigen Sitzgruppe, die aus alten Grabsteinen errichtet wurde. Eine Vertiefung in der Mitte erlaube einen Perspektivwechsel, erläuterte Matthias Karré, "sodass man sich auch gedanklich auf eine andere Ebene begibt". Für weitergehende Informationen über die studentische Widerstandsgruppe zur Zeit der NS-Diktatur ist auf den Steinstufen ein QR-Code angebracht, der auf die Webseite der Stiftung Weiße Rose führt. "Das soll auch widerspiegeln, wie Flugblätter in der heutigen Zeit aussehen könnten", sagte Matthias Karré. Im Zentrum des Denkraums findet sich überdies eine Granitschale, um dort Geschenke oder Briefe abzulegen.

Tatsächlich besuchen laut Heino Jahn zahlreiche Schulklassen das Ehrengrab von Christoph Probst und den Geschwistern Scholl. "Und viele Schülerinnen und Schüler haben das Bedürfnis, dort etwas hinzulegen - und dort zu verweilen." Der neue Denkraum gebe ihnen nun die Möglichkeit hierzu. Überdies soll er auch als Mahnung dienen, den Namen der Widerstandsgruppe nicht zu instrumentalisieren. "Die Mitglieder der Weißen Rose wurden benutzt, um gegen die Demokratie zu arbeiten - und nicht dafür", sagte Mirjam Zadoff, die Leiterin des NS-Dokumentationszentrums, über den vielfachen Missbrauch besonders von Sophie Scholl seitens der Protest-Bewegung. Und die Dritte Bürgermeisterin Verena Dietl (SPD) betonte: "Die Ziele, für die die Weiße Rose gekämpft hat, nämlich gegen Krieg, gegen Unterdrückung und gegen Gewalt, sind heute aktueller denn je."

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