Süddeutsche Zeitung

Quereinstieg als Erzieherin:"Wer das auf sich nimmt, hat sich das gut überlegt"

Lesezeit: 6 min

Sie sind Konzertveranstalterin, Friseurin oder Konditorin - und wollen künftig in der Kita arbeiten. Weil überall Erzieherinnen und Erzieher gesucht werden, entstehen immer mehr Wege in den Beruf. Doch die Ausbildung erfordert viel Einsatz.

Von Kathrin Aldenhoff

Ein wenig zweifelnd blickt sich Christiane Tricarico um. Die Theaterwissenschaftlerin Mitte 40 steht nur mit Socken an den Füßen auf dem Parkettboden im Bewegungsraum einer Schule. Es ist ein Freitagabend Anfang Mai, um sie herum stehen eine Friseurin und eine gelernte Konditorin, Büro- und Speditionskauffrauen und drei Frauen mit einem abgeschlossenen Studium; und die Frauen sollen sich nun nach dem Anfangsbuchstaben ihres Vornamens sortieren. Sie kommen aus München und Brasilien, aus Russland und Bayern. Und sie alle haben ein Ziel: Sie wollen noch einen weiteren Beruf erlernen. Sie wollen Erzieherinnen werden.

Es gibt zu wenig Erzieherinnen und Erzieher in Münchens Kitas - diese Tatsache ist so bekannt wie problematisch. Kitagruppen sind unterbesetzt, andere können gar nicht erst eröffnet werden, obwohl die Räume dafür da wären - weil die Erzieherinnen fehlen. Die Erzieherinnen und Kinderpfleger, die da sind, sind oft überlastet. Wenn jemand krank ist, freie Tage abbaut oder im Urlaub ist, wird es oft schon eng; Betreuungszeiten müssen gekürzt werden wegen des Personalmangels.

Zwar ist die Zahl der Ausbildungsplätze an den verschiedenen Fachakademien gestiegen, das Gehalt für Erzieherinnen ebenso. Es gibt immer mehr Wege in den Beruf und die Träger suchen auch im Ausland nach Männern und Frauen, die in Münchner Kitas arbeiten wollen. Und trotzdem sind allein an den etwa 450 städtischen Kitas rund 13 Prozent der Erzieherstellen nicht besetzt, bei den Kinderpflegern sind es fünf Prozent. Insgesamt gibt es rund 1450 Kitas in München. Und die bunten Banner "Erzieher gesucht" an den Zäunen der Kindertagesstätten gehören zum gewohnten Bild.

Quereinsteiger sind gefragt, sie bringen Lebenserfahrung mit

Für Christiane Tricarico war das einer der Gründe, zur Erzieherin umzuschulen. Zu wissen: In diesem Beruf werde ich immer etwas zu tun haben, werde ich immer Arbeit finden. Bisher arbeitete sie als Konzertveranstalterin, erst angestellt, dann selbständig - bis Corona kam. "Mir war klar, jetzt ist die Zeit umzudenken", sagt Christiane Tricarico. "Und neben der Kultur waren Kinder schon immer meine zweite große Liebe."

Sie hat sich für zwei Praktika beworben und sofort Zusagen bekommen. Die erste Station: ein Waldkindergarten an der Isar. Durch Wald und Wiesen streifen, schnitzen und auf Bäume klettern, so hoch sie können - diese Freiheit für die Kinder, alles auszuprobieren, sagt sie, die habe sie beeindruckt. Und die Fähigkeit der Erzieher, es auszuhalten und Vertrauen zu haben, wenn ein Kind in den Baum klettert. Und sie wusste: Sie will das machen, sie will Erzieherin werden.

Die Quereinsteiger, so sagt es eine Sprecherin des Referats für Bildung und Sport, seien extrem wichtig für die Kitas in München. "Ohne sie wäre der Personalmangel an den Kitas weitaus größer." Und Quereinsteiger seien gut für die Teams und die Kinder: Durch ihre Lebens- und Berufserfahrung bringen sie andere Sichtweisen und Impulse mit.

Erst ein Jahr Unterricht und Praxisstunden, dann ein Jahr Berufspraktikum

In München gibt es mehrere Fachakademien, die Kurse für Quereinsteiger anbieten. Christiane Tricarico ist eine von 27 Frauen und Männern, die in diesem Jahr ihren Externenkurs an der Caritas Don Bosco Fachakademie für Sozialpädagogik begonnen haben. Manche arbeiten bereits als Kinderpflegerinnen oder Ergänzungskräfte in Kitas. Sie werden neben ihrem Beruf ein Jahr zur Schule gehen, donnerstag- und freitagabends sowie samstags, und zusätzlich zu Hause lernen.

Die Gebühren unterscheiden sich von Schule zu Schule. An dieser Fachakademie kostet der Vorbereitungskurs zum Beispiel 2300 Euro, plus 900 Euro Prüfungsgebühr. Wer keine Kita-Erfahrung hat, muss 960 Praxisstunden ableisten. Und wenn die Prüfungen bestanden sind, folgt ein Jahr Berufspraktikum mit Begleitseminar, das die Stadt München etwa mit 1800 Euro monatlich vergütet. Christiane Tricarico und ihre Kommilitonen haben den gleichen Lehrplan und am Ende, wenn alle Prüfungen bestanden sind, den gleichen Abschluss - aber viel weniger Zeit.

An diesem Freitagabend im Mai folgt auf das Kennenlernen im Bewegungsraum für die Hälfte der Gruppe das Fach Musik, für die andere Hälfte Sozialpädagogische Praxis. Evelyn Brandl steht in einem Klassenzimmer im ersten Stock vor elf Frauen und erklärt: Sozialpädagogische Praxis ist zwar kein Prüfungsfach, aber trotzdem wichtig. Außerdem sei hier der Raum, von den eigenen Erfahrungen und aus dem Berufsalltag zu erzählen.

Und das tun die Frauen: Sie erzählen von Kindern, die von Grund auf neugierig sind und dass es das ist, was sie an der Arbeit begeistert; von der anspruchsvollen Arbeit in Integrationsgruppen, von der Dankbarkeit der Eltern. Und immer wieder vom Personalmangel. Von Gruppen, die noch nie eröffnet werden konnten und von anderen, die geschlossen werden mussten. Von kranken Kolleginnen und wie es ist, in Unterbesetzung zu arbeiten.

Ein Stockwerk weiter unten zeigt Musikpädagogin Sonja Beck ihrer Gruppe, wie sie Tücher in die Luft werfen und dazu singen, sie proben den Armwechsel und lernen, wie Kinder Klanghölzer halten und dass man die auch aus Besenstielen oder Ästen bauen kann. Lauter und leiser trommeln, crescendo und decrescendo. Sie hebt die Hand, es wird ruhig. Funktioniert auch in der Kita, sagt Sonja Beck. Und empfiehlt, die Geste früh einzuführen.

Es geht um Strampellieder, um Verse, um Kniereiter; das alles steht im Buch in Kapitel sieben, musikalisches Spiel mit Kleinkindern, Seite 204 bis 220. Sie sollen sich das durchlesen, es in ihrer Kitagruppe ausprobieren - und für die Prüfung lernen. Denn dieses Thema wird an diesem Freitag begonnen und abgeschlossen und kommt dann erst wieder in der Prüfung dran. So ähnlich ist es in vielen Kursen: Die Prüfungen sind Thema, auch wenn es noch ein knappes Jahr dauert, bis sie geschrieben werden.

Der Einstieg werde einem nicht leicht gemacht, sagt eine Umschülerin - auch finanziell

Bevor sie an diesem Freitagabend unterrichten, erklären Sonja Beck und Evelyn Brandl, was das Besondere an diesem Kurs für Externe ist. "Wer das auf sich nimmt, hat sich das gut überlegt. Unsere Teilnehmerinnen sind hoch motiviert. Sie sind eigentlich immer da, außer sie selbst oder ihre Kinder sind krank. Und sie fordern uns, wollen viel wissen", sagt Evelyn Brandl. Und Sonja Beck ergänzt, die Externen stünden mitten im Berufsleben. Sie wüssten eine Weiterbildung ganz anders zu schätzen. Und hätten Lust, Verantwortung zu übernehmen.

Christiane Tricarico zum Beispiel sieht diese Zeit der Ausbildung als Investition in ihre Zukunft. Sie sagt: "Ich habe mir dieses Jahr zum Lernen genommen." Sie verdient im Moment nichts, lebt von Erspartem, ihre Familie unterstützt sie. "Der Einstieg als Erzieherin wird einem nicht leicht gemacht", findet sie. "Natürlich ist eine pädagogisch fundierte Ausbildung wichtig. Aber ein finanzieller Ausgleich ist auch wichtig. Wenn man gute Leute in den Kitas will, dann muss man die auch entsprechend bezahlen."

13 Prüfungen stehen ihr im kommenden Jahr bevor. Im Schnitt schaffen es drei der 30 Teilnehmer am Ende nicht, erzählt Evelyn Brandl. Und dass die Kitas oft gerne Quereinsteiger einstellen. Denn sie träumen nicht wie Jüngere vielleicht von einer Weltreise, die meisten haben schon Kinder. Und wer die Weiterbildung schafft, hat Selbstdisziplin bewiesen: Das Lernen zu Hause ist Teil des Kurses, fünf bis sieben Stunden pro Woche sollten es schon sein, sagt Brandl.

Eingeführt wurden die Kurse für Externe, um Menschen mit Berufserfahrung die Möglichkeit zu geben, Erzieher zu werden, ohne die klassische langjährige Ausbildung absolvieren zu müssen. Die Weiterbildung zur Erzieherin am Pädagogischen Institut gibt es beispielsweise seit fast zehn Jahren, mit jährlich 50 Plätzen. An der Fachakademie der Caritas liegt das Mindestalter bei 25 Jahren. Viele, so erzählen es Evelyn Brandl und Sonja Beck, fänden den Zugang zum Beruf über ihre eigenen Kinder. In jedem Jahrgang seien auch ein paar Männer. Und immer bewerben sich mehr, als sie annehmen können.

Christine Kastner zum Beispiel. Die 33-Jährige mit der lila Haarsträhne sitzt auf einem Flickenteppich auf dem Boden des Musikraums, gerade haben sie eine kurze Pause, gleich geht es weiter mit einem Spiel zum Instrumente kennenlernen. Sie hat sich beworben, weil sie alleinerziehend ist und sich ihr Beruf als Meisterin für Bäderbetriebe nur schlecht mit dem Familienleben vereinbaren lässt. Jetzt arbeitet sie als pädagogische Hilfskraft in einer Kinderkrippe und macht nebenbei ihre Ausbildung zur Erzieherin.

Neben ihr sitzt Elisabete Souza-Lübbert. Sie hat in ihrer Heimat Brasilien Grundschullehramt studiert, der Abschluss wurde in Bayern nicht anerkannt. Nun wird sie also Erzieherin, neben der Vollzeitarbeit in einer Waldorf-Einrichtung, neben dem Muttersein. "Sonntagmorgen vor dem Frühstück wird gelernt", sagt die 53-Jährige und lächelt. Ihr Mann und ihre Tochter unterstützen sie, sagt sie, anders ginge es nicht.

Im Klassenzimmer im ersten Stock spricht Evelyn Brandl darüber, wie jede mit der Zeit ihren eigenen Erzieherstil finden kann. Warum Kuchen backen mit zehn Kindern nicht funktioniert und dass Handpuppen nur eine von vielen Möglichkeiten sind, Kinder auf ein bestimmtes Angebot vorzubereiten. Als Evelyn Brandl um 21 Uhr die Stunde beschließt, ist es draußen dunkel. Im Herbst sieht sie ihre Schülerinnen wieder. Bis dahin sollen sie an sieben Gliederungspunkten entlang einen Bericht über ein pädagogisches Angebot schreiben, das sie in der Kita ausprobiert haben. Die Frauen ziehen ihre Jacken an, kommende Woche geht's weiter, dann steht das Fach Pädagogik/Psychologie/Heilpädagogik auf dem Stundenplan. Aber am Abend wird Christiane Tricarico erst einmal mit ihrem Mann ihren Hochzeitstag feiern.

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