Süddeutsche Zeitung

Münchner Kammerspiele:Die Rampensau hat Spuren hinterlassen

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In nur fünf Jahren hat Intendant Matthias Lilienthal die Münchner Kammerspiele vielleicht für immer verändert. Eine Dokumentation beschreibt die Erfolgsgeschichte in drei Akten.

Von Christiane Lutz

Barack Obama und Matthias Lilienthal haben eins gemeinsam: Man sieht ihnen deutlich an, welch tiefe Spuren ihr Job hinterlassen hat. Zu Beginn seiner ersten Amtszeit sah Obama frisch und funkelnd aus, das Haar dunkel. Acht Jahre später: graue Müdigkeit. Matthias Lilienthal war, bevor er Intendant der Kammerspiele wurde, zwar nicht obamagleich dynamisch, aber agil und sehr kokett.

In einem Interview von 2013 sagt er vergnügt: "Ich bin eine Rampensau und möchte, dass der Zuschauerraum voll ist. Ich werde alles tun, dass das Gegenteil von leeren Rängen entsteht." Auch seine krausen Schläfen waren da noch eher schwarz als grau. 2020 dann wirkt er in sich zusammengesunken, ergraut und ebenfalls müde. Jeder Kampf, den man führt, bleibt eben irgendwo im Körper hängen. Und Lilienthal hat in seiner Zeit in München wahrlich viele Kämpfe führen müssen. Besonders in den ersten zwei Jahren seiner Intendanz waren die Ränge nicht immer das Gegenteil von leer.

Das aber blendet die Dokumentation "Kammerspiele - Jammerspiele" weitgehend aus. So heißt der Film, den die Regisseurinnen Chiara Grabmayr und Juno Meinecke gedreht haben. "Eine Kulturdokumentation über fünf Jahre Kammerspiele mit Matthias Lilienthal als Intendant", wie es in der Ankündigung heißt. Die Regisseurinnen haben sich in 45 Minuten stellvertretend drei Themen aus Lilienthals letzter Spielzeit rausgepickt und in drei Akte geteilt: das Abschieds-Stück "Opening Ceremony", Leonie Böhms Inszenierung "Die Räuberinnen" und eine Art Porträt der Regisseurin Anta Helena Recke. Jeder Teil steht für etwas, das an den Kammerspielen mit Lilienthal wichtig war.

Die "Opening-Ceremony" im leeren Olympiastadion, inszeniert von Toshiki Okada, für die Offenheit, die Lilienthal lebte. Der Räuberinnen-Akt handelt dann von dem beglückenden Erlebnis einer rein weiblichen Produktion. Frausein am Theater kann ungeheuer mühsam sein, wenn man Hängerchen tragen und die Liebende spielen muss, sind sich die Spielerinnen einig. Es kann aber ungeheuer ermächtigend sein, wenn man sich, wie hier, einen von Männerfiguren dominierten Text krallt und sich radikal aneignet.

Im dritten Teil krallt sich Anta Helena Recke dann die Deutungshoheit und spricht über ihre eigene Arbeit - mal verkleidet als Matthias Lilienthal, mal als Kritiker der Süddeutschen Zeitung. Recke, die als Schwarze Regisseurin immer auch Rassismus und den eurozentristischen Blick thematisieren und Sehgewohnheiten herausfordern will, gibt sich also als jene aus, die sie beauftragen und ihre Arbeit beurteilen. Sie ersetzt die Weißen durch sich selbst, wie sie in ihrer "Schwarzkopie" von Mittelreich alle weißen durch schwarze Schauspieler ersetzte. Das war ein Coup, auch wenn die Inszenierung genau die gleiche war. Denn zu behaupten, es sei doch egal, welche Hautfarbe jemand habe, ist immer noch das Privileg derer, die nie Probleme aufgrund ihrer Hautfarbe hatten. Recke legt den Finger in die Wunden und stiftet ordentlich Verwirrung, eine wohltuende Erfahrung.

Der Schauspieler Samouil Stoyanov erzählt in einer Szene Pizza kauend und passend dazu, dass er sich an den Kammerspielen erstmals seiner Privilegien als weißer Hetero-Mann bewusst wurde und Menschen traf, "die nicht aus meinem Proleten-Umfeld kommen." Der Film handelt also nicht nur von Erlebnissen, die Haare ergrauen lassen, sondern auch von den guten, die einen weiterbringen.

Und davon, wie die Kammerspiele mit Lilienthal trotz oder gerade wegen der Reibung die Münchner und ihr Verständnis von Theater für immer verändert haben.

Kammerspiele - Jammerspiele , Di., 19. Jan., 22.50 Uhr, Bayerisches Fernsehen und in der Mediathek

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SZ vom 16.01.2021
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