Süddeutsche Zeitung

Ein Jahr Krieg in der Ukraine:Der Mut der kranken Kinder

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Darmbeschwerden, Tumore, Verbrennungen: Im Dr. von Haunerschen Kinderspital werden seit Beginn des Ukraine-Krieges regelmäßig Kinder und Jugendliche behandelt. Ein Pilotprojekt soll die Versorgung künftig noch besser machen.

Von Nicole Graner

Als Oliver Muensterer, Direktor der Kinderchirurgie im Dr. von Haunerschen Kinderspital des LMU-Klinikums, die kleine Sophia beschreiben will, die bei ihm in Behandlung ist, fällt ihm sofort ein Wort ein: mutig. "Sie ist mutiger als wir alle." Sophia kommt aus der Ukraine, ist sechs Jahre alt und hat ein Kurzdarmsyndrom. "Also", wie Muensterer erklärt, "so wenig Darm, dass er keine Kalorien und Nährstoffe mehr aufnehmen kann". Zeitlebens müssten solche Patienten intravenös ernährt werden.

Genau das ist Sophias Problem. Ein- bis zweimal am Tag braucht sie diese spezielle Nahrungsversorgung. Aber da, wo sie lebt, ist Krieg, und die spezielle Mischung aus Deutschland ist durch die Versorgungsengpässe nicht mehr zu bekommen. Also flieht sie mit ihren Eltern vor den Bomben dahin, wo es sie gibt. Nach Deutschland. Auf der 2000 Kilometer langen Reise machen sie zahlreiche Stopps. Da, wo es eine Kinderklinik gibt und Sophia intravenös mit Flüssigkeit versorgt werden kann.

Das Ende der Reise ist München, das Dr. von Haunersche Kinderspital. Und Oliver Muensterer. Zunächst folgt ein stationärer Aufenthalt, danach kommt Sophia weiter für die ambulante Behandlung in die Klinik. All das erzählt ihr Arzt. Als Beispiel für viele Kinder aus der Ukraine.

Denn nicht nur Sophia wird im Haunerschen Kinderspital behandelt. Stationär liegen gerade vier Kinder aus der Ukraine auf der chirurgischen Station. Seit Kriegsbeginn seien viele Kinder ins Haunersche gekommen, sagt Muensterer. Gezählt hat er sie nicht. Sie kamen mit schweren chronischen Erkrankungen. Dazu gehören Darm- oder genetische Erkrankungen, aber auch Knochenbrüche und Verbrennungen. Auch bösartige Tumore werden operativ entfernt.

"Wie behandeln hier alle Fälle, jedes Kind", sagt der 53-jährige Direktor. Ganz normale Fälle wie Blinddarm-Entzündungen, aber auch besondere. So seien zwei ukrainische Kinder mit total verätzten Speiseröhren behandelt worden. Sie haben wohl Rohrreiniger getrunken, der in ganz normale Flaschen umgefüllt worden war.

Die meisten Kinder kämen mit ihrer Mutter nach Deutschland, so der Arzt. Die Verständigung sei kein Problem. Denn im Team gebe es russisch-sprachige Kollegen. Und viele könnten laut Muensterer sehr gut Englisch oder hätten in der Zeit, die sie schon in Deutschland sind, "gut Deutsch gelernt". Auch ist Muensterer froh, dass seine kleinen Patienten über den deutschen Staat krankenversichert seien. Da gebe es nie Probleme.

Seit 2021 haben die Münchner Ärzte Kontakte nach Odessa

Die Klinik für Kinderheilkunde im Dr. von Haunerschen Kinderhospital hat nicht nur Kinder mit Krebserkrankungen, sondern auch viel andere lebensbedrohliche Fälle stationär aufgenommen und behandelt. Es kamen auch Kinder mit HIV-Infektionen oder mit Tuberkulose.

Von März an wird es deshalb eine Zusammenarbeit mit der Infektiologie des Haunerschen und mit dem Gesundheitsreferat München geben: Mit dem Pediatric Migrant & Public Health Center Munich soll die Versorgung von Kindern und Jugendlichen noch schneller und umfassender werden. Betreut wird das zunächst auf zwei Jahre angelegte Pilotprojekt am Haunerschen vom Leiter der infektiologischen Ambulanz, Ulrich von Both.

Seit 2021 hat Oliver Muensterer Kontakt in die Ukraine. Also noch vor dem Krieg. Ein elfjähriger Junge aus der Ukraine - der Vater war wegen der Arbeit nach Deutschland gezogen - sei in seine Sprechstunde gekommen. Er wollte seinen künstlichen Darmausgang wegbekommen. Um dem Jungen besser helfen zu können und die Vorgeschichte zu verstehen, nahm Muensterer Kontakt zur Kinderchirurgie am Kinderkrankenhaus in Odessa auf. Der Kontakt besteht noch heute. Noch immer hilft das Kinderspital mit Geld, damit im Kinderkrankenhaus Odessa nicht die Dieselvorräte zu Ende gehen, die wichtigen Geräte wie Beatmungsmaschinen weiter laufen.

Regelmäßig schaue eine ukrainische Ärztin in München vorbei, erzählt der Münchner Kollege. Man tausche sich aus. Man rede über die Arbeit, den Krieg. Einen Krieg, den der Direktor der Kinderchirurgie bis heute nicht versteht, der ihn anwidert und auch fassungslos macht. "Wie krank kann man sein, gezielt Bomben auf Kinderkrankenhäuser in der Ukraine abzuwerfen?" Wenn Kinder nicht mehr sicher seien, dann sei es niemand mehr. "Umso wichtiger ist es", sagt Muensterer, "dass wir die Ärztinnen und Ärzte am Kinderkrankenhaus von Odessa in ihrer so lebenswichtigen Arbeit unterstützen".

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