Süddeutsche Zeitung

Feiern in der Stadt:Wenn die Krise Pause macht

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Nach zwei Jahren gibt es wieder Festivals in München. Endlich tanzen, feiern, staunen, anstehen vorm Dixi-Klo. Ein Besuch auf dem Wannda Circus Open Air.

Von Julia Schriever

Ein Opa radelt eine Straße in Freimann entlang und wundert sich, wer ihm da alles entgegenkommt. Frauen mit Blumen im Haar, Männer in Hawaiihemden, Freunde mit einem Kasten Bier. Es ist Samstagabend, eben ist eine U-Bahn angekommen. Sie hat mitgebracht, was sie schon lang nicht mehr dabeihatte: junge Menschen voller Vorfreude auf ein Festival. Neben einer großen Wiese in Freimann wird an diesem Tag das "Wannda Circus Open Air" eröffnet.

Drei Wochen hat das Team des Kulturvereins Wannda gearbeitet, bis das Festivalgelände fertig war. Zirkuszelt und Karussell, Fotoautomat und Schmink-Ecke. Überall baumeln Discokugeln, Kronleuchter, Lampenschirme. Die Nebelmaschine arbeitet, Elektro-Musik wummert. Vor dem Eingang stehen die Menschen in einer hundert Meter langen Schlange. Daneben Leute mit Pappschildern, auf denen "Suche Ticket" steht. Die Karten waren schnell ausverkauft. "Der Festival-Hunger ist riesig", sagt Franzi, eine Medizinstudentin. "Alle haben Lust, rauszugehen, zu tanzen und das Leben zu spüren."

Mehr als zwei Jahre ist es her, dass Festivals in München stattfinden konnten. Corona war schuld. Inzwischen lässt sich kaum mehr sagen, wie viele Menschen gerade Corona haben. Das Thema ist vorerst verdrängt worden von anderen Katastrophen. Russland nimmt Mariupol ein, die Inflation steigt rasant, Affenpocken in München und Berlin. Das Münchner Festival Isle of Summer wirbt damit, endlich wieder "die alte Unbeschwertheit" zurückzubringen. Es hat schon unbeschwertere Zeiten gegeben.

In der Schlange in Freimann steht Sinah, kurze Hose, Häkeltop. Beim Festival hilft sie in der Schmink-Ecke aus, von Beruf ist sie Yogalehrerin und Coach. In ihrem Yogakurs fiel ihr auf, wie gestresst die Leute ankamen. Vom Weltgeschehen. Vom Druck, wenn man als junger Mensch in der teuersten Großstadt Deutschlands klarkommen muss. "In meinen Yogastunden sage ich oft, dass wir jetzt mal versuchen, alles von außen abzuschalten", sagt sie. Und so ähnlich funktioniert ja ein Festival.

Eine Diva und ein Zauberer laufen auf Stelzen übers Festivalgelände. Ein Junge wirft Konfetti, biologisch abbaubar. Es gibt Akrobatinnen und Seiltänzer. Wer will, kann sich mit Federschmuck, Hippiejäckchen und Perücke verkleiden und ein Polaroidfoto für 3,50 Euro machen lassen. Menschen, die sich vorher noch nie gesehen haben, schmieren sich gegenseitig Glitzer auf die Backe. In der Schlange zum Dixi-Klo werden Fremde zu Freunden. Und über allem liegen der Sommer und die elektronische Musik.

"Für mich ist das der freiste Ort in München", sagt Sarritah. "Weil alle hier so sein können, wie sie sind." Sie ist Künstlerin und verkauft Lederjacken, Westen und T-Shirts an ihrem Stand. Und Kalender fürs Jahr 2022, die sie schon beim Märchenbasar vor Weihnachten hatte verkaufen wollen. Alles war schon aufgebaut, da wurde der Basar wegen Corona abgesagt. Sarritah ist in Trudering aufgewachsen, sie ist schon lang im Wannda-Team. Seit 2012 nutzt der Kulturverein Flächen in München, die gerade leer stehen, und baut dort seine Zelte auf. Viele der Gäste folgen dem Fest seit Jahren, egal ob an den Leonrodplatz, zum Viehhof oder nach Freimann. Aber auch aus Köln, Berlin, Slowenien und Italien sind Gäste gekommen. Der Wannda-Leitsatz ist: Wenn nicht jetzt, wann dann?

Der Satz fällt in eine Zeit, in der ständig neue Virusvarianten auftauchen und Virologen vor der nächsten Welle warnen. Die Festivalgäste tanzen und trinken, quetschen sich an der Bar aneinander, kugeln auf alten Teppichen herum oder drücken sich für Gruppenfotos eng aneinander. Ein Abend, der festgehalten werden muss. Sinah, die Yogalehrerin, hat zwei Stunden lang Menschen geschminkt. Der Jüngste auf ihrem Stuhl war drei, ihre Freundin schminkte einen 80-Jährigen. Sie haben ihnen Pünktchen, Strichlein und Schnörkel ins Gesicht gemalt und sehr viel Glitzer verteilt.

Ob es funktioniert hat mit der Unbeschwertheit? Das Abschalten von Gedanken an Corona, Krieg und Affenpocken? Sinah überlegt kurz. "Ich denk schon, dass alle das im Hinterkopf haben", sagt sie. "Aber ich glaub, dass gerade alle so sehr den Moment genießen, weil man ja weiß, dass es morgen wieder vorbei sein könnte."

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