Süddeutsche Zeitung

Ayinger Premiere:Ein Reh, die Liebe und die Nazis

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Die Gmoa Kultur zeigt historisch inspiriertes Stück "Abschuss - Wilderer und Bauernopfer".

Von Franziska Gerlach, Aying

Dieses Drama beginnt mit einem Zeitungsartikel, klein, vergilbt und mehr als 80 Jahre alt. Ein kurzer Text, in dem es darum geht, dass in der Gegend drei junge Wilderer verhaftet wurden. "Wahrscheinlich hatten sie Hunger", sagt Michael Wöllinger, der solche Geschichten sammelt, weil sich ja eventuell ein Theaterstück daraus machen lässt. Dass einer beim Wildern erwischt wurde, sei jedenfalls ziemlich oft vorgekommen, damals im Krieg. Der Gründer und frühere Vorsitzende des Kulturvereins Ayinger Gmoa Kultur spricht leise, damit er Marcus Everding nicht stört, der den Schauspielern einige Meter entfernt gerade Anweisungen erteilt.

Von Wöllinger an Everding weitergereicht, hat der kleine, vergilbte Zeitungstext diesen nämlich zu dem Bühnenstück "Abschuss - Wilderer und Bauernopfer" inspiriert, das am 15. Oktober im Theater im Sixthof in Aying uraufgeführt wird. Es ist bereits das zehnte Stück, das der bekannte Theaterregisseur und Autor für die Laientheatergruppe aus dem südlichen Landkreis geschrieben hat.

Und nun kniet bei den Proben ein junger Mann in einem fiktiven Wirtshaus auf dem Boden, hält einen Rucksack auf und blickt seiner Verlobten direkt ins Gesicht. Ein Gesicht, das im Ausdruck blanken Entsetzens verharrt. Standbild. Die Augen weit aufgerissen, die Hände erhoben, so steht sie da und rührt sich nicht, während zwei Stimmen aus dem Off mit bairischem Zungenschlag den Dialog zwischen dem Paar entfalten. Von einem Reh ist da die Rede, das der junge Mann heimlich geschossen hat. Und von den Befürchtungen der jungen Frau, dass das ein Nachspiel haben könnte. Obwohl "Abschuss - Wilderer und Bauernopfer" in einer Wirtschaft spielt, ist es freilich keiner dieser eingängigen Mundart-Dreiakter, durch die sich die Gewissheit zieht, dass am Ende ein Toni, Maxl oder Franz seine Angebetete in die Arme schließen darf. Schon in den vergangenen Jahren hat Everding für die Ayinger Gmoa Kultur komplexe Themen für die Bühne aufbereitet, die auf historischen Begebenheiten fußen - 2016 zum Beispiel "Brudermord".

Politik, Intrigen, Religion und Liebe

Die Handlung seines neuen Stücks hat der Theatermann ins Jahr 1940 gelegt, Hitlers Armeen haben gerade Frankreich besetzt. Politik und Intrigen, aber auch Religion, Liebe und die diffizilen Mechanismen familiärer Beziehungen sind die Säulen, die das Drama in vier Bildern tragen. Der Sohn der Wirtsleute wird verraten und wegen Wilderei zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Er ist nun vorbestraft, ein Krimineller. Und dem Reichserbhofgesetz von 1933 zufolge nicht mehr erbberechtigt. Das ruft Interessenten am Grundstück der Wirtsfamilie auf den Plan. Etwa den Bürgermeister und zugleich Ortsgruppenleiter der NSDAP, der den Wirt drängt, die Fläche der Partei zum Bau eines HJ Heimes zu überlassen, eine Lehrerin mischt sich ebenfalls ein, den Part des Skeptikers hat Everding einem parteikritischen Pfarrer zugeschrieben.

In fünf Tagen hat Everding das Stück verfasst, die Recherchen dafür aber dauerten drei Monate. Er wälzte Doktorarbeiten und historische Texte, grub tief in der Geschichte, bis er zu dem Schluss kam, dass sich die Verhältnisse auf dem Lande damals kaum unterschieden haben. Die Nationalsozialisten setzten überall die gleiche, infiltrierende Struktur durch, mit einem von der Partei gewählten Ortsgruppenleiter an der Spitze. Ein Posten, den tatsächlich oft der Bürgermeister übernahm, wie der Regisseur erläutert. Manchmal sogar auf Bitte der Bauern hin. Die Scharniere, die dieses neu geschaffene kommunale Konstrukt am Laufen hielten, hießen Druck, Angst und Verrat. Sie untergruben das Vertrauen ganzer Dorfgemeinschaften und Familien. Namen tun daher nichts zur Sache, der Sohn der Wirtsleute heißt "er", seine Verlobte "sie". "Funktionsbezeichnungen", so Everding, die von der Entmenschlichung einer Gesellschaft künden, von Machtgier und Skrupellosigkeit, die empfindsame Gemüter im Publikum erschüttern dürfte.

Dennoch will der Regisseur nicht mit dem Finger auf andere deuten. Nicht noch ein Stück schaffen, bei dem der Zuschauer die Gräueltaten des NS-Regimes aus sicherer Distanz verfolgt, interessiert vielleicht, aber doch heilfroh, dieser Epoche entkommen zu sein. "Wir wollen eine Geschichte erzählen, die damals gespielt hat", sagt Everding. Zeigen statt richten. Und weil Erzählen und Zeigen so wichtig ist, gibt es auf der Bühne zudem zwei "Botschafter der Zeit", einen ehemaliger Häftling des KZs Dachau und eine polnische Arbeiterin. Zeitzeugen, die dokumentieren, indem sie einfach nur zuhören, aufschreiben, beobachten. Eine Art wertfreie Instanz, die nicht urteilt. Der aber wohl auch nichts entgeht.

Etwa, dass die Mutter des jungen Wilderers sich Gedanken darüber gemacht hat, ob die Verlobte ihres Sohnes erbberechtigt sei, wenn sie ihn heiratet. Und sie werden auch nicht vergessen, von wem der Vorschlag stammt, der Sohn solle sich einer eigens für Wilderer gegründeten Sonderheit der SS anschließen. Weil er so seine Ehre wieder herstellen könne. Falls er's überlebt, wie es an einer Stelle des Stücks heißt.

"Abschuss - Wilderer und Bauernopfer", Vorstellungen am 15., 17., 18., 23., 24., 25., 29., 30. und 31. Oktober, Theater im Sixthof in Aying, Karten zu 20 Euro unter 0700/25 25 00 25 oder unter Karten@ayinger-gmoa-kultur.de

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SZ vom 02.10.2020
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