Süddeutsche Zeitung

Ausstellung in Ebersberg:Jede Nadel ein Toter

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Die Berliner Künstlerin Anja Sonnenburg analysiert globale Missstände und visualisiert sie mit gestalterischen Mitteln.

Von Anja Blum, Ebersberg

Die Welt ein bisschen besser zu verstehen. Darum geht es in der Kunst von Anja Sonnenburg, die nun beim Ebersberger Kunstverein ausstellt. Das heißt: Ihre Werke hängen nicht in irgendeinem Elfenbeinturm, sind nicht abgehoben, sondern fest in Realitäten verwurzelt. Es geht um ganz konkrete Ereignisse, Probleme zumeist, welche die Berliner Künstlerin analysiert, mit gestalterischen Mitteln darstellt und somit künstlerisch überhöht. Ihre Hauptthemen sind Krieg, Flucht und Umweltzerstörung - die Ergebnisse aber keinesfalls plakative Horrorszenarien, sondern fein ausgeklügelte grafische Darstellungen. Faszinierende Vermessungen.

Ursprünglich kommt Anja Sonnenburg, geboren 1969, aus der Bildhauerei. Sie studierte an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, war dort Meisterschülerin von Inge Mahn. Noch heute kreiere sie immer wieder Installationen im öffentlichen Raum, erzählt sie, jenseits dessen habe sie sich jedoch vor allem auf die Zeichnung verlegt. Wobei diese Kategorie eigentlich viel zu kurz greift für Sonnenburg, denn auch ihre Wandarbeiten reichen durchaus in die Dreidimensionalität hinein. Die Berlinerin zeichnet nicht nur mit Graphit, Filzer, Kreide oder Silberstift, sondern erweitert ihre Kunst um allerhand Materialien, Stecknadeln zum Beispiel, oder Schnüre.

Einen besonders großen Raum nimmt bei Sonnenburg die Vorbereitung ein: die Suche nach einem Thema, die Recherche, das Konzept der Gestaltung. "Das alles dauert oft sehr lang", sagt sie. Dabei geht diese Künstlerin zunächst vor wie ein Datenjournalist: Sie sammelt Zahlen oder ähnliche Informationen zu einem bestimmten Sachverhalt und überlegt dann, wie sich diese grafisch aufbereiten ließen, sodass für den Betrachter ein Mehrwert entsteht. Dafür nutzt Sonnenburg kartografische sowie diagrammatische Elemente, überall finden sich Landkarten, Koordinatensysteme, Punkte, Linien, oft sogar Worte. Der Titel der Ausstellung beim Ebersberger Kunstverein lautet: "Zum Ende hin - Zählungen; Grafische Aufzeichnungen und Ordnungsmuster zwischen Kartografie und Diagrammatik".

Oftmals zählt die Künstlerin Opfer, sei es von Kriegen oder Attentaten

An einem Beispiel wird schnell deutlich, wie Sonnenburgs Kunst funktioniert: In der Alten Brennerei hängt links ein großes, schwarzes, von Linien unterteiltes Board, in dem unzählige Nadeln stecken. Sie bilden kleinere und größere Pilze. Eine Schnur zeigt die Umrisse Afghanistans an. Sonnenburg erklärt: "Hier sind alle von Wikileaks dokumentierten Opfer des Kriegsjahres 2009 kartografisch erfasst und punktgenau markiert." Das heißt: Jede Nadel ist ein Toter. Puh.

Ebenfalls um Opfer geht es bei den "Brennpunkten", mit der 110-teiligen Zeichnung widmet sich die Künstlerin islamistischen Attentaten. Die Arbeit dokumentiert alle erfassten Terroranschläge des Jahres 2016 durch eine präzise Einzeichnung im jeweiligen Ortsplan, wieder markieren Nadeln die genaue Anzahl der Getöteten. In manchen Städten stecken nur zwei oder drei, in Bagdad ein ganzer Strauß.

Bei einer anderen Arbeit steht jeder Punkt für ein Flüchtlingszelt, "VISA vis" hingegen visualisiert, wohin ein Mensch mit dem Pass seines Herkunftslandes im Jahr 2018 ganz ohne oder mit einem zeitlich begrenzten Visum reisen durfte: eine Tafel aus 56 Zeichnungen, jede zeigt die Weltkarte, nur eben jeweils anders coloriert. Manchmal glänzen sehr viele Länder in Gold, manchmal nur sehr, sehr wenige. Reisefreiheit - ein relativer Wert.

Wohin blicken die Deutschen? Eine Auswertung der "Tagesschau" verrät es

Die Installation "15 min" wiederum verdeutlicht, wohin wir Deutschen unseren Fokus richten: Auf einer Platte stehen die Namen internationaler Städte, selbstverständlich kartografisch korrekt platziert. Daran befestigt sind rote Fäden, die zu einer Zeitleiste mit 365 Tagen am Boden führen. Mal sind es wenige Schnüre, mal sehr viele: Über den Zeitraum von einem Jahr, von Oktober 2014 an, hat Sonnenburg Tag für Tag alle Länder notiert, über welche die Tagesschau berichtete. So zieht jeder Faden gleichsam eine Spur vom entsprechenden Tag der Nachricht zu ihrer Herkunft.

Zum hundertsten Geburtstag des Frauenwahlrechts hat Sonnenburg eine Art riesige Mindmap entworfen. Sie besteht aus den 150 Seiten des 1929 erschienenen Essays "Ein Zimmer für sich allein" von Virgina Woolf. Diese Seiten hat die Künstlerin mit roter Farbe übermalt, dabei aber Wörter ausgespart, die ihr als Sequenz von Gedanken wichtig erschienen. Zum Beispiel Elternhaus, Lebensmut, Verstand, Habgier oder Macht. "Verbunden mit Linien, beschreiben sie ein Denkmuster, dessen Wege sich kreuzen, auseinander und wieder zusammenführen", erklärt Sonnenburg. Eine Gedankenlandkarte, auf der das Auge spazieren gehen kann.

Doch nicht nur um Politik und Gewalt gegen Menschen geht es in dieser Ausstellung, auch die Natur liegt Sonnenburg am Herzen. Die 230-teilige Zeichnung "red list animals" etwa beschäftigt sich mit dem Verschwinden der Tiere: eine Strichliste für jedes Land verzeichnet die bedrohten und ausgestorbenen Arten, die von der Weltnaturschutzunion 2019 veröffentlicht wurden. So erkennt man auf den ersten Blick, wo auf der Erde es besonders schlecht bestellt ist um die Tiere. Ein anderes Beispiel sind die "shrinking lakes": Diese Zeichnungen visualisieren in der Gegenüberstellung der Umrisse großer Wasserreservoirs deren dramatische Schrumpfung.

"Wir werden tagtäglich bombardiert mit Informationen und vor allem Zahlen - dabei können wir vieles gar nicht so schnell begreifen", sagt Anja Sonnenburg. Deswegen habe sie als Künstlerin es sich zur Aufgabe gemacht, bestimmte Aspekte herauszugreifen, sich in die Details einzuarbeiten und die Themen dann zu visualisieren. Dabei geht es stets um "Ereignisse, die mich berühren, beschäftigen". Heraus kommen also meist politische Arbeiten. Sonnenburg selbst bezeichnet "die Empörung über die Ungerechtigkeit des Lebens" als ihre Triebfeder.

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Allerdings ist ihre Kunst optisch nicht geprägt von Wut oder anderen negativen Gefühlen, ganz im Gegenteil. Sonnenburgs Arbeiten sind vielmehr angelehnt an die nüchterne Darstellungsform von Infografiken. Und nicht nur das. Durch die künstlerische Gestaltung besitzen sie ein hohes Maß an Ästhetik, eine Zartheit und Unaufdringlichkeit, die völlig konträr ist zu ihrem ja stets kritischen Inhalt. Eine durchaus erwünschte Divergenz: "Ich hoffe, dass die Werke sich genau dadurch beim Betrachter besonders einprägen", sagt Sonnenburg.

Auch wenn ihre Kunst auf den allerersten Blick rätselhaft sein mag: Diese Künstlerin möchte verstanden werden. Sie wolle Erkenntnis ermöglichen, Anstoß geben zum Nachdenken, sagt sie. Deswegen geben die Titel stets einen deutlichen Hinweis auf die Bedeutung der Grafiken. Und sollte das einmal nicht ausreichen, fügt Sonnenburg ihren Exponaten kleine Texte bei.

Die künstlerische Umsetzung würde wohl so mancher als Strafarbeit bezeichnen

Doch was macht es mit Anja Sonnenburg selbst, dass sie sich ständig mit derart globalen Problemen auseinandersetzt? Zumal auf eine Art und Weise, die andere vermutlich als Strafarbeit bezeichnen würden? Schließlich wollen hier unzählige Stiche gezeichnet, Stecknadeln gesetzt, Schnüre gespannt werden. Doch für die Berlinerin scheint das überhaupt kein Problem zu sein. "Ja, meine Arbeit ist sehr kontemplativ", sagt sie lachend. "Und ganz am Ende bin ich das Thema dann immer wieder los." Nur die Erkenntnis, die bleibt.

Ausstellung von Anja Sonnenburg beim Kunstverein Ebersberg, Alte Brennerei im Klosterbauhof, Vernissage am Freitag, 1. April, um 19 Uhr, Finissage mit Künstlergespräch am Sonntag, 24. April, um 16 Uhr. Öffnungszeiten freitags 18 bis 20 Uhr, samstags und sonntags von 14 bis 18 Uhr. Es gilt 2G mit Maske.

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