Süddeutsche Zeitung

Geschichte:Als Markt Schwabens Bürgermeister eine junge Jüdin versteckte

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Dramen, Schicksale, Menschen: Jüdische Geschichten aus sechs Orten im Landkreis Ebersberg zeigen großes Leid - aber auch Zeichen von Hoffnung.

Von Johannes Korsche

Die Synagoge für Jüdinnen und Juden aus dem Landkreis Ebersberg steht und stand in München. Als sie stand. Bevor sie in der Reichspogromnacht von den Nationalsozialisten angezündet wurde. Im Ebersberger Landkreis gibt es keinen Raum, keinen Treffpunkt für jüdische Menschen. Warum eigentlich nicht? Und heißt das auch, dass es nie ein offenes jüdisches Leben im Landkreis gab? Das diesjährige Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" will eigentlich genau das feiern, auch in Ebersberg. Eine chronologische Spurensuche vom Mittelalter bis in die Zukunft. Es ist auch die Geschichte eines Barons im Kloster, einer Künstlerin in Verzweiflung und eines Fabrikanten fürs Süße. Erzählt an sechs Orten:

Der mittelalterliche Marktplatz

Die Suche beginnt dort, wo man im Mittelalter alles gefunden hat. An einem Ort, wo die Händler neben dem Pranger standen und das gesellschaftliche Leben die Stimmen und den Gestank durch die Luft getragen haben muss: auf den Marktplätzen. In erzkatholischen Landkreisen, wie es Ebersberg lange war, gab es wohl nur einen Raum, der einen ähnlichen Stellenwert beanspruchen konnte: die Kirche. Dass Marktplatz und Dorfkirche oft nur wenige Schritte entfernt lagen, mag nicht nur Sinnbild gewesen sein, sondern war manchmal auch ganz praktisch: Wenn mal wieder jemand wiederholt nicht zur sonntäglichen Messe kam, fand er sich eben schnell am Pranger wieder. Mit besten Blick auf den Kirchturm als pädagogischen Kniff. Nur ein kleiner Eindruck, wie kompromisslos der Katholizismus über seine religiöse Alleinherrschaft wachte. Kann sich da überhaupt eine jüdisches Gemeinde entfalten?

Der heutige Kreisheimatpfleger Thomas Warg stieg in die Archive, um Antworten zu finden. Er wühlte in Zunftordnungen und dem Grafinger Häuserbuch, in dem sich neben Meldeangelegenheiten auch allerlei Tratsch von vor 350 Jahren fand. Aber zu jüdischen Menschen fand er: nichts. "Auch nicht indirekt über Namen wie Abraham oder Isaak", sagt er. Was daran liegen könnte, so die Vermutung, dass damals abseits der großen Städte schlicht keine Juden lebten. Die Folge mehrerer antijudaischer Erlasse aus dem Wittelsbacher Königshaus. Herzog Albrecht III., Beiname "Der Fromme", hatte zum Beispiel 1442 die Vertreibung der Juden aus München und Altbayern angeordnet, was damals eher als Bestätigung denn Widerspruch für die ihm zugeschriebene christliche Frömmigkeit gesehen wurde. Sein Urenkel Albrecht V., genannt "Der Großmütige", bestätigte diese unrühmliche Familientradition gut ein Jahrhundert später und untersagte Juden erneut, im bayerischen Herzogtum zu wohnen. Erlasse, mit denen auf dem katholischen, bayerischen Land besonders eifrig Menschen vertrieben wurden.

Das Ebersberger Kloster

Doch selbst, als es Jahrhunderte später jüdischen Familien erlaubt war, im Landkreis Ebersberg zu leben, zogen sie nur vereinzelt zu. Eine jüdische Gemeinde entstand nicht. Auch dann nicht, wenn die Begebenheiten so günstig standen wie im Jahr 1813. Fünf Jahre nach der Säkularisation suchte man einen Käufer für das Klostergut Ebersberg. Es erwarb Baron Simon von Eichthal, Sprössling der Bankiersfamilie Seligmann aus dem Städtchen Leimen bei Heidelberg. Der Vater war seit ein paar Jahren bestens am Bayerischen Königshof vernetzt. Als Heereslieferant der bayerischen Truppen und Staatsfinanzier. "Das waren Bankiers allererster Güte", sagt Warg. Der damalige König Maximilian I. Joseph erhob die Seligmanns aus Dankbarkeit für deren Dienste gar in den Adelsstand. Aus den Seligmanns wurde die Familie von Eichthal.

Drei Jahre, nachdem Baron Simon das Klostergut gekauft hatte, änderte sich neben dem Namen noch etwas, bei Baron Simon. Er ließ sich in einer Kirche im Münchner Vorort Berg am Laim katholisch taufen. Warum? "Das ist eine spekulative Überlegung", sagt der Grafinger Archivleiter Bernhard Schäfer. Briefwechsel oder Tagebucheinträge gebe es nicht. Die Quellenlage sei ohnehin zur damaligen Zeit noch schwierig. Vielleicht glaubte der Baron wirklich mit der Zeit eher an den Heiland Jesus Christus, als an die jüdische Messiashoffnung. Vielleicht wollte er auch dem verbreiteten Antijudaismus keinen Grund mehr geben - und der Glauben spielte für ihn ohnehin keine Rolle mehr. Beides möglich. So oder so: Eine jüdische Gemeinde, in dessen Mitte ein zahlungskräftigen Baron steht, blühte damals nicht auf. Es sollte für lange Zeit die letzte Chance bleiben.

Das Glonner Ortsschild

Das Unvorstellbare lässt sich schwerlich beschreiben, vielleicht erkennt man es am ehesten noch im vermeintlich Kleinen. Wie dem Glonner Ortsschild zur Zeit des Nationalsozialismus. Das Schild war damals mit dem Schriftzug "Juden sind hier nicht erwünscht" ergänzt, hat Warg herausgefunden. Aus dem glaubensgetriebenen Antijudaismus des Mittelalters, dem sich Juden durch Anpassung und Abtauchen ins Private vielleicht noch entziehen konnten, war ein systemischer Antisemitismus erwachsen. Die jüdische Abstammung war nun des Hassens wert. Auch im Münchner Umland.

So entstand erst als die Nationalsozialisten alles Jüdische ausrotten wollten, ein genaueres Bild vom jüdischen Leben im Landkreis Ebersberg. Man kann eben nur vernichten, was man kennt. Nur war der Wahn größer als sein Ziel. Nie lebten mehr als zehn zwangsgemeldete Juden im Landkreis. Die Verfolgung und Deportation war zudem derart gründlich, dass die Ebersberger Kampfgemeinschaft der NSDAP schon mal zu einem Aufmarsch nach Rosenheim auswich. Schlicht weil es im eigenen Landkreis "an geeigneten Angriffspunkten für eigene Aktivitäten mangelte", wie Bernhard Schäfer im Grafinger Wappenbär, einer Schriftenreihe zu Geschichte und Kultur des Archivs und Museums der Stadt Grafing, schrieb.

Trotz der wenigen jüdischen Menschen lassen sich die Folgen der Judenvernichtung hier wie durch ein Brennglas sehen. Zum Beispiel an den Landauer-Brüdern, deren Landwirtschaftsgut in Hergolding für einen Spottpreis arisiert worden war. Einer der beiden, Julius Landauer, erklagte sich in der Nachkriegszeit dafür eine finanzielle Entschädigung. Er lebte inzwischen in den USA. Wie so viele, denen die Flucht rechtzeitig gelang. Oder am Beispiel des Viehhändlers Alfons Pressburger. Er kam seiner Verhaftung wegen angeblicher Verbreitung von "Judengreuelmärchen" mit einem Schuss in seinen Kopf zuvor. Aber auch an dem Beispiel der polnischen Jüdin Estera Koropitzer, die sich bis Kriegsende unter falschem Namen als Haushaltsgehilfin bei der Markt Schwabener Bürgermeisterfamilie Schweiger verstecken konnte. Und so der Grausamkeit hinter den Worten entkam, die auf Ortsschilder gepinselt wurden.

Das Grafinger Künstlerhaus

Was geschah, wenn die Ebersberger Jüdinnen und Juden der Vernichtungsmaschinerie nicht entkamen, davon erzählt der vierte Ort dieser Spurensuche: der Grafinger Dobelweg, Hausnummer 16. Dort baute sich die Künstlerin Martha Pilliet 1935 ein kleines Häuschen, das noch heute dort steht. Wären die Zeiten anders gewesen, es hätte das glückliche Ende eines bewegten Lebens sein können. Es wäre egal gewesen, dass ihre Eltern jüdischen Glaubens waren. Der Schmerz, dass ihr (katholischer) Mann Johann - ebenfalls Künstler und als solcher als Jean bekannt - zu früh sterben musste, hätte ausgereicht.

Einfach war es für die Pilliets nicht im Landkreis. Seit das Künstlerpaar 1910 in die damalige Gemeinde Ebersberg gezogen war, waren schon genug Anfeindungen zusammengekommen. Des Namens wegen - Franzosen waren eben auch nicht willkommen. Nur: Beide kamen aus Deutschland. Johann fiel im Ersten Weltkrieg an der russischen Front. Heute erinnert eine Gedenktafel in der Ebersberger Heldenallee an den Soldaten.

Anfang der 1930er Jahre sei die Kriegswitwe in Ebersberg wegen ihrer jüdischen Abstammung angegriffen worden, berichtet Schäfer. 1932 zog sie nach Grafing, erwarb dort ein Grundstück am Dobelweg, baute sich ein Haus und malte, wenn sie nicht gerade Puppen anfertigte. Martha Pilliet, die sich selbst "freireligiös" nannte, blieb in Grafing beileibe keine Ausgeschlossene. Sie pflegte eine enge Freundschaft mit der Ebersberger Rechtsanwaltsfamilie Ramlmayr. Den Ramlmayrs schrieb sie im Herbst und Winter 1941 Briefe, die den Gang durch die Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten beschreiben. Bernhard Schäfer hat diese Briefe wiederentdeckt.

Pilliet kam 1941 von ihrem so geliebten Haus am Dobelweg in die Milbertshofener Barackensiedlung an der Münchner Knorrstraße. Im September schrieb sie in einem Brief an die Ramlmayrs: "Um es gleich zu sagen: Alles ist furchtbar! Das Schlafen, der Betrieb des ganzen, die Menschen, das Essen, alles, alles." Wenige Zeilen später: "Ich habe schrecklich Zeitlang nach ihnen, nach Grafing und meinem schönen Wald." Im November erkrankte sie an Grippe und Fieber: "Es ist nichts da, wo man alleine sein könnte und ein bißchen Pflege hätte." Und weiter: "Ach, hätte ich es doch nur in Grafing schon getan, ich dummes Schaf. Denn es muß ja doch sein, dieses halte ich ja doch nicht aus, es ist das Todesurteil". Neun Tage später schluckte Martha Pilliet eine Überdosis Schlafmittel, absichtlich. Ihre Deportation ins litauische Kaunas war da bereits terminiert.

Die Konfitürenfabrik

Der Krieg endete, jüdische Menschen zogen vereinzelt in den Landkreis Ebersberg. Ort Nummer sechs: die Grafinger Rotter Straße. Hinter dem Biergarten Heckerkeller, wo heute Bier gärt, begann die Geschichte eines Herstellers, kümmerte man sich in den Nachkriegsjahren um andere Gelüste. Gegründet vom jüdischen Unternehmer Ernst Goldmann, kochte und verschraubte eine Fabrik fortan Konfitüre. Die "Ergo"-Fabrik - aus den Gründer-Initialen abgeleitet, nicht von der Versicherung - wuchs schnell, "Süßes sells".

Zwei Verkaufsstellen in Grafing und Ebersberg genehmigte das Landratsamt im folgenden Jahr, auch weil "der Antrag auf Einzelhandelserlaubnis schon vom Gesichtspunkte einer Wiedergutmachung nicht zu versagen" wäre, wie es in der Genehmigung heißt. Wieder ein Jahr später, 1948, verlagerte Goldmann die Produktion nach Geretsried, an der Rotter Straße war es zu eng geworden. Das jüdische Brüderpaar Kurt und Walter Schüller versuchten daraufhin ihr Glück, mit der "Keks- und Waffelfabrik Markt Grafing", kurz Kewa. Schon wieder was Süßes. 1951 schloss allerdings auch diese Fabrik ihre Pforten, drei Jahre später zogen die Brüder nach München.

Der Martha-Pilliet-Weg

Begonnen hat die Spurensuche auf den Marktplätzen im Mittelalter, enden soll sie in der Zukunft. An einer Straße, die es noch nicht gibt. Das Wohngebiet "Friedenseiche VIII" am nordwestlichen Stadtrand von Ebersberg ist geplant, aber noch nicht gebaut. Von der Elsa-Plach-Straße wird aber mal der "Martha-Pilliet-Weg" abgehen. Schön, aber ist das nun ein Zeichen dafür, dass eine jüdische Gemeinde ein selbstverständlicher Teil des Landkreis Ebersberg wird? Wohl nicht. Das Straßenschild wird an ein Leben erinnern. Und daran, dass sich jüdisches Leben auch in Ebersberg über die Jahrhunderte nicht entfalten konnte.

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Quelle:
SZ vom 29.05.2021
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