Süddeutsche Zeitung

Interview:"Die Bedeutung kommt immer hinterher gelatscht"

Lesezeit: 5 min

Tom Kühnel und Jürgen Kuttner kuratieren zum letzten Mal das Brechtfestival in Augsburg. Ein Abschiedsgespräch.

Von Yvonne Poppek, Augsburg

Es begann mit einem Spektakel: Die erste Ausgabe des Augsburger Brechtfestivals von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner im Februar 2020 setzte auf eine wilde Zusammenstellung, auf Gleichzeitigkeit, vielleicht auch Überforderung. Sie hatten gerade noch Glück, dass das Festival wie geplant ablaufen konnte. Kurz darauf kam der erste Lockdown. Ausgabe zwei ein Jahr später verlegte das Leitungsduo gleich ganz ins Digitale, sie stifteten die Künstler zu filmischen Formaten an, in dieser Phase der geschlossenen Spielstätten ein wahrhaftes Glück. Nun haben Kuttner und Kühnel ihre letzte Festivalausgabe kuratiert, eine hybride Form mit Live-Veranstaltungen und digitalen Angeboten. Ein würdiger Abschied der Berliner aus Augsburg?

SZ: Haben Sie eigentlich unbehagliches Herzklopfen, wenn Sie auf Ihr Programm schauen? Die Corona-Lage könnte auch einiges unmöglich machen.

Jürgen Kuttner: Es ist schon ein bisschen schwierig, was die Planung betrifft. Man schaut immer noch gebannt auf die Omikron-Variante, welche Folgen die wohl haben wird. Im Vorfeld hat sie schon Auswirkungen gezeitigt. Wir hatten eine japanische Truppe eingeladen, Chiten, mit einem ziemlich spektakulären "Fatzer". Das klappt jetzt zum Beispiel nicht, weil die nicht reisen können. Wir haben an verschiedenen Stellen gewisse Einschränkungen, aber insgesamt schauen wir doch mit Vorfreude und Neugierde auf das, was kommen wird.

Wie sind Sie diesmal an die Planung herangegangen? Mit angezogener Handbremse?

Kuttner: So darf man einfach nicht denken. Zuallererst muss man seine Ideen ernst nehmen und zusehen, sie zu realisieren. Die Einschränkung kommt von ganz alleine. Wenn man sich selber schon von vornherein einschränkt, wird man ja handlungsunfähig.

Wie kam es zum Motto "Worldwide Brecht"?

Kuttner: Es war ein Resultat des letzten Brechtfestivals, das rein digital lief. Man konnte plötzlich von überall aus der Welt darauf zugreifen. Das haben wir ernst genommen und, weil es uns sowieso interessierte, gesagt: Wir machen einen internationalen Brecht. Brecht wurde ins Exil getrieben, ist durch die Welt gereist. Er hat auch in seinen Stücken internationale Aspekte. Die "Mutter" kommt aus Russland, "Sezuan" spielt in China. Wir wollten versuchen, internationale Künstler zu kriegen, die eben dadurch, dass wir diese Netzoption haben, nicht unbedingt alle vor Ort sein müssen. Ein paar Sachen haben wir live eingeladen: Chiten, die leider ausfallen, Ramses Alfa aus Togo mit "Mutter Courage". Wir haben Kupalaucy aus Minsk, sie zeigen "Furcht und Elend des Dritten Reiches" vor dem Hintergrund der belarussischen Entwicklungen. Wir haben das "Exilio"-Projekt von Nora Buschmann aus Katalonien. Anderes läuft im Netz.

Es ist aber auch ein bisschen lustig: Wir sitzen seit zwei Jahren im Wohnzimmer, und Sie gehen mit Brecht weltweit spazieren.

Kuttner: Die Corona-Pandemie ist auch eine globale Erfahrung. Etwas, was freilich im schlechten Sinne die ganze Welt betrifft. Sonst passieren die Dinge weit weg, in Myanmar, China, Russland, Ukraine. Es ist also auch etwas Weltumspannendes. Das Zuhause-Sein betrifft quasi alle.

War das ein Teil der Überlegungen zum Motto oder ist Ihnen das gerade so durch den Kopf geschossen?

Kuttner: Nein, so kalkulierend sind wir nicht. Wir haben eine Idee und dann machen wir die. Die Bedeutung kommt immer hinterher gelatscht.

Sie eröffnen mit einem Thomas Brasch-Abend, den Sie selbst inszenieren. Wie reiht der sich in Ihr Motto ein?

Kuttner: Na, gar nicht. Wir sind keine Motto-Fetischisten.

Tom Kühnel: Deutschland gehört zur Welt dazu.

Kuttner: Außerdem kann man sagen, Brasch ist als Kind jüdisch-kommunistischer Emigranten in England geboren.

Kühnel: Man findet immer etwas.

Das stimmt. Was war die Grundidee bei den Produktionen, die Sie zeigen?

Kuttner: Wir hatten den Grundansatz, ob im Netz oder als Spektakel, dass wir aus dieser blöden Kuratoren-Nummer rauswollten. Wo man rumfährt und Sachen einkauft in der Theaterlandschaft. Das lädt man ein und das soll gut schmecken. Und das hat gute Kritiken gekriegt. Das Ganze packt man ein und lädt es in Augsburg wieder aus. Das wollten wir nicht. Wir wollten lieber Künstler ansprechen, sie fragen, ob sie nicht Lust haben, sich mit bestimmten Aspekten zu beschäftigen. Das ist etwas, das sich durch alle drei Festivals durchzieht und das für 80 oder 90 Prozent der Sachen, die zu sehen sind, auch gilt.

Sie haben in Augsburg mit einem Spektakel angefangen. Hatten Sie geplant, alle drei Ausgaben so anzulegen?

Kuttner: Das wäre schon gut gewesen, das weiterzuführen. Wir haben beim ersten Festival gemerkt, wie unvertraut diese Form in Augsburg war. Viele Besucher kannten das tendenziell eher nicht. Andere waren hell begeistert. Bei uns war es ein Jahrmarkt. Wir haben versucht, Brechts Prägung durch den Augsburger Plärrer aufzunehmen. Man kam rein, es fand alles gleichzeitig statt. Man konnte nicht alles sehen, man konnte auch nicht überall rein. Das führte teilweise zu Irritationen. Aber Irritation ist nicht das Schlimmste. Es wäre toll gewesen, das fortzusetzen.

Die zweite Ausgabe war das Digitalfestival , das - auch international - viel Aufmerksamkeit bekommen hat. Würden Sie sagen, es war erfolgreich?

Kuttner: Ich bin nicht der Betriebswirtschaftler unseres Festivals, aber die Resonanz hat mich sehr gefreut. Und vor allem haben mich die Produkte gefreut. Als Corona näher kam, haben wir gesagt, dass wir es zu 100 Prozent digital machen. Aber wir wollten vermeiden, dass es abgefilmtes Theater ist. Das hatte man ja in diesem halben Jahr Corona gesehen: Da sitzen irgendwelche Schauspieler in ihren Hobbyräumen oder in der Küche und lesen Camus "Die Pest". Das wollten wir nicht. Wir haben zu unseren Künstlern gesagt: Ihr habt Eure Projekte im Kopf. Macht was damit, aber macht Filme, die man sich richtig im Fernsehen, auf dem Computer, auf dem Handy ansehen kann. Und macht nicht blödes, abgefilmtes Theater. Da sind dann wirklich erstaunliche Sachen entstanden. Den Anspruch haben wir den Künstlern auch weitergegeben für dieses Mal.

Nehmen Sie aus dieser Erfahrung mit dem Digitalen etwas mit für Ihre künstlerische Arbeit? Beeinflusst Sie das für Ihre Produktionen?

Kuttner: Nö, wenn's nicht sein muss, muss es nicht sein. Mich interessieren die Diskussionen zum digitalen Theater nicht. Theater ist im Kern schon die Anwesenheit, die Agora, wo wichtige Sachen verhandelt werden, und man sieht, wie die Schauspieler arbeiten oder schwitzen. Alles andere ist etwas anderes. Wenn es heißt: Lasst es uns digital machen, sag ich: Icke nicht.

Sie haben Elemente aus dem Digitalprogramm 2021 übernommen, trotz anderer Thematik. Damals ging es um Brecht und die Frauen. Warum?

Kuttner: Es wird viele geben, die zum ersten Mal zur Kenntnis nehmen, dass das Brechtfestival im Netz zu sehen ist. Die Filme sind schon von einer Qualität, dass man sie immer wieder zeigen kann. Nur weil wir sie einmal gezeigt haben, schmeißen wir sie nicht weg oder tun sie ins Archiv - das ist ja schade drum.

Kühnel: Dass man die Sachen auch live vor Ort in einer Kino-Situation auf einer großen Leinwand gucken kann, war auch so ein Punkt. Dass man die Sachen groß zeigt und nicht nur in Handy-Größe, ihnen auch einen anderen Ort gibt.

Aus heutiger Sicht: Wenn Sie nach Ihrem letzten Brechtfestival Augsburg verlassen, haben Sie dann alles umgesetzt, was Sie wollten, oder gehen Sie mit noch unerfüllten Wünschen?

Kuttner: Das, was wir vorhatten, konnten wir realisieren. Wir hätten aber noch ein paar andere Sachen im Kopf.

Finden Sie es ein gutes Konzept, dass die künstlerische Leitung des Festivals immer nur drei Ausgaben konzipieren soll?

Kuttner: Ich finde es ein bisschen unsinnig, weil es keine wirkliche Entwicklung ermöglicht. Das ist so ein bisschen die Leute vortanzen zu lassen. Es ist ein wenig konsumistisch gedacht. Ich glaube, es wäre sinnvoller, den Konzepten mehr Zeit zu geben, sich wirklich zu entwickeln. Aber das sind kulturpolitische Entscheidungen.

Wie lange würde ein Festival brauchen, um sich zu entwickeln?

Kuttner: Das weiß ich nicht. Aber ich glaube, es wäre kulturpolitisch sinnvoller, nach Inhalten zu entscheiden statt nach festen Fristen.

Brechtfestival Augsburg , Freitag, 18. bis Sonntag, 27. Februar, verschiedene Orte

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