Süddeutsche Zeitung

Arbeitsmarkt:"Sie wussten nicht, wie sie mit mir umgehen sollen"

Lesezeit: 3 min

Von Inga Rahmsdorf

Es wird nicht viel gesprochen, zumindest nicht hörbar. Trotzdem ist die Stimmung gelöst. Die 14 Frauen und Männer unterhalten sich mit der Lehrerin Sandra Reiß durch Gesten, Mimik und ihren ganzen Körper. Und es wird viel gelacht. Reiß hat auf eine Wand den Satz projiziert: "In zwei Wochen soll unser Auftrag fertig sein." Alle versuchen ihn in Gebärden zu übersetzen. Es ist Mittwochmorgen, in der Münchner Firma CDS beginnt der Arbeitstag mit einem Gebärdenkurs. Die Teilnahme ist freiwillig und findet nicht während der Arbeitszeit statt, trotzdem ist das Interesse groß.

Die Firma CDS beschäftigt 80 Mitarbeiter. Sie drucken unter anderem Baupläne aus, digitalisieren Archive und gestalten Werbetechniken. Für Geschäftsführer Mike Riegler ist es inzwischen selbstverständlich, dass neun seiner Mitarbeiter gehörlos sind. Dabei ist es nicht so, dass er speziell Menschen mit Behinderung gesucht hat. "Und mit Mitleid hat das auch nichts zu tun", sagt Riegler. "Wir stellen Mitarbeiter nach ihren Stärken und Qualifikationen ein."

In München haben etwa 24 000 Beschäftigte eine Behinderung. Die Zahl ist in den vergangenen Jahren zwar stetig gestiegen, doch nicht so stark wie die der Beschäftigten insgesamt. "Wir haben unter den Menschen mit Schwerbehinderung ein großes Fachkräftepotenzial für unseren Arbeitsmarkt", sagt Wilfried Hüntelmann, Chef der Agentur für Arbeit. "Ich würde mir wünschen, dass bei Einstellungen die Qualifikationen des Bewerbers im Vordergrund stehen und nicht die körperlichen Handicaps."

Einschränkungen könnten durch finanzielle oder technische Hilfen kompensiert werden. In diesem Jahr hat die Agentur 1000 Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt. Trotzdem stagniert die Zahl der Arbeitslosen mit Behinderung bei etwa 2800. Deswegen will Hüntelmann auch Arbeitgebern mögliche Ängste und Vorbehalte nehmen. Denn die gibt es offenbar immer noch in vielen Unternehmen. Das war auch bei der Firma CDS früher so.

Als sich vor 17 Jahren zum ersten Mal ein gehörloser Mann bei Riegler bewarb, war der Unternehmenschef sich zunächst unsicher. Der Bewerber hatte zwar die notwendigen Qualifikationen. "Doch wie soll das funktionieren, wenn wir nicht kommunizieren können?", fragte sich Riegler. Er hat sich dann trotzdem dafür entschieden, den Mann einzustellen. "Es hat so viel Unterstützung vom Integrationsamt und von der Arbeitsagentur gegeben, dass wir uns gesagt haben, wir probieren das aus. Und wir haben es nie bereut." Klar, manches müsse man beachten. Ein Mensch, der nichts hört, den könnte man nicht allein zum Kunden schicken. Gerade bei Digitalisierungsarbeiten aber könnten sich gehörlose Mitarbeiter mitunter sogar besser konzentrieren, weil sie sich nicht vom Lärm ablenken ließen.

Martina Steinert arbeitet bei CDS, sie ist technische Zeichnerin und gehörlos. In den Firmen, in denen sie zuvor gearbeitet hat, klappte es mit der Kommunikation mit den Kollegen nicht gut. "Sie wussten nicht, wie sie mit mir umgehen sollen und haben mich dann lieber gemieden. Ich war ziemlich einsam", sagt Steinert. Bei CDS sei das anders, weil es andere gehörlose Kollegen gebe und weil die hörenden Kollegen sich schon daran gewöhnt hätten, einige Regeln zu beachten. Wenn man sich unterhält, muss Steinert das Gesicht ihres Gegenübers sehen, damit sie von den Lippen ablesen kann. "Gerade bei der Arbeit passiert es schnell, dass man in Eile ist und sich beim Sprechen wegdreht", sagt Marco Würpel. Er arbeitet seit 15 Jahren bei CDS, ist stellvertretender Produktionsleiter und gehörlos.

In Deutschland sind Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitern dazu verpflichtet, fünf Prozent ihrer Stellen an Menschen mit Behinderungen zu vergeben. Beim öffentlichen Dienst liegt die tatsächliche Quote mit knapp sechs Prozent darüber, bei privaten Unternehmen allerdings deutlich unter fünf Prozent. Wer unter der geforderten Quote liegt, muss eine Ausgleichsabgabe zahlen. Das sei aber nie der Grund gewesen, gehörlose Mitarbeiter einzustellen, sagt Riegler. Damals war sein Unternehmen noch so klein, dass ihn die Quote gar nicht betraf.

Die Kommunikation funktioniere viel besser, seit es den Gebärdenkurs gibt, sagt Aliye Stoppel, eine der Teilnehmerinnen. "Und wir fordern nicht nur von den Kollegen, dass sie uns von den Lippen ablesen, sondern wir können ihnen jetzt auch entgegenkommen." Dabei müsse die Gebärdensprache nicht hundertprozentig funktionieren, sagt Dietmar Treffer. Er ist Mediengestalter, arbeitet seit drei Jahren bei CDS und ist seit der Geburt gehörlos. Er kann von den Lippen ablesen. Aber es erleichtere den Alltag schon sehr, wenn die Kollegen die wichtigsten Begriffe nun auch in Gebärdensprache ausdrücken könnten.

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SZ vom 30.11.2017
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