Süddeutsche Zeitung

Ukraine:Russland kommt seinen Zielen näher

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Mariupol ist gefallen - und auch sonst kommen Putins Truppen bei der Eroberung der Ostukraine voran.

Von Florian Hassel

Dem Kreml nutzt der Fall von Mariupol vor allem an einer Front: der Propaganda. So dichtet Moskau die Zahl der gefangengenommenen Kämpfer des Asow-Regiments, der Verteidiger Mariupols, von offenbar einigen Hundert zu mehreren Tausend "Nazis" um - eine Verunglimpfung durch ein Regime, das nicht nur für den Historiker Timothy Snyder selbst inzwischen faschistoide Züge angenommen hat.

Russlands Oberstes Gericht dürfte das Asow-Regiment nun zur "terroristischen Organisation" erklären. Darauf werden Schauprozesse folgen, die von Russlands massiven Kriegsverbrechen ablenken, die Lüge von allgegenwärtigen ukrainischen Faschisten als Kriegsrechtfertigung untermauern und vom desaströsen Kriegsverlauf mit Zehntausenden toter und verwundeter russischer Soldaten ablenken sollen. Hat sich die Propgandawirkung erschöpft, ist zu hoffen, dass viele Asow-Männer später abseits des Scheinwerferlichts gegen russische Gefangene ausgetauscht werden.

Rein militärisch ändert der Fall von Mariupol jetzt kaum etwas am Stand des Krieges. Der Fall der Hafenstadt, die Russland als unverzichtbar sah, um eine Landbrücke von der besetzten Krim ins nur ein paar Dutzend Kilometer östlich von Mariupol liegende Russland zu beherrschen, war seit Kriegsbeginn nur eine Frage der Zeit. Zuletzt dürften nur ein paar Tausend russische Soldaten den letzten Widerstand der Verteidiger Mariupols gebrochen haben - und nun dazu beitragen, ein russisches Mindestkriegsziel zu erreichen: die Eroberung der gesamten Ostukraine.

Eine Rückeroberung der Krim ist unrealistisch

In der Region Luhansk kommt der Kreml diesem Ziel näher. Die bald ebenso gründlich wie Mariupol in Trümmer geschossene Stadt Sewerodonezk dürfte ebenfalls fallen. Besser sieht es aus Kiews Sicht bisher mit den Städten Slowjansk und Kramatorsk aus, ohne die Moskau die gesamte Ostukraine nicht kontrollieren kann.

Im Süden schafft Russland Fakten. Neben Donezk, Luhansk und Mariupul wird Wladimir Putin auch die Stadt Cherson und von Russland besetzte Teile dieser Region annektieren, es in der Region Saporischschja versuchen und einen russisch kontrollierten Gürtel an der Küste über Mariupol und Donezk bis nach Sjewjerodonezk nach Russland schaffen.

Nur Putin selbst weiß, ob er eine Einnahme Kiews, die Eroberung Charkiws, der Industriesadt Dnipro oder Odessas endgültig als Kriegsziel aufgegeben hat. Doch schon der abgetrennte Gürtel von Cherson über Mariupol und Donezk und Luhansk an die russische Grenze bedroht die Ukraine in ihrer Existenz - vor allem in Kombination mit der fortdauernden Blockade der Hafenstadt Odessa und der ukrainischen Aus- und Einfuhren durchs Schwarze Meer.

Gewiss, die ukrainische Armee hat schon bei Kiew und Charkiw erfolgreiche Gegenoffensiven gezeigt. Möglich auch, dass zusätzliche westliche Waffen die Ukrainer in die Lage versetzen, weitere seit dem 24. Februar von Moskau besetzte Gebiete zu befreien. Umfangreiche ukrainische Großoffensiven zur Rückeroberung aller seit 2014 geraubten Gebiete einschließlich der Krim sind dagegen unrealistisch. Dafür müsste die Ukraine - Waffen und ausreichend Soldaten vorausgesetzt und die Gefahr russischer Atom- oder Chemieeinsätze außer Acht lassend- vermutlich Hunderttausende Menschen opfern. Eben deswegen spricht Präsident Wolodimir Selenskij wieder von einer diplomatischen Beendigung des Krieges. Bisher allerdings spricht nichts dafür, dass Putin dies auch nur in Erwägung zieht.

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