Süddeutsche Zeitung

Berlin:Erstmals eine Frau

Lesezeit: 2 min

Die Hauptstadt wird eine Regierende Bürgermeisterin erhalten. Jetzt wäre es angebracht, den eingeübten Jammer-Modus abzulegen und zu zeigen, was in Berlin alles geht.

Kommentar von Cerstin Gammelin

Berlin ist eben Berlin. Da mögen die Bewohner sich in Befragungen noch so kritisch gegenüber ihren Regierenden äußern, am Ende wählen viele sie doch wieder. Selbst die scharfen Warnungen vor Rot-Grün-Rot im Bund haben die Wähler und Wählerinnen in der Hauptstadt wenig beeindruckt. Laut Hochrechnung vom Sonntagabend erreichten SPD, Grüne und Linke gemeinsam wieder eine Mehrheit, mit der sie regieren könnten - wenn sie es denn wollten.

Die Fortsetzung des Linksbündnisses ist allerdings nur eine Option unter mehreren. Die künftige Regierende Bürgermeisterin - erstmals seit Gründung der Bundesrepublik dürfte eine Frau das Land Berlin regieren - könnte auch andere politische Farbkombinationen sondieren. Theoretisch könnten sogar beide Spitzenfrauen, Franziska Giffey von der SPD und Bettina Jarasch von der Grünen, versuchen, jeweils ein Regierungsbündnis zu schmieden.

Giffey und Scholz haben sich gegenseitig beflügelt

Das Rennen um den Chefsessel im Roten Rathaus war lange spannend. Ähnlich wie im Bund hatten die Grünen zunächst vorne gelegen, der Aufwind nach der Nominierung von Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock hatte die Berliner Spitzenkandidatin Bettina Jarasch beflügelt. Doch mit dem Sinkflug im Bund war der Plan, im Windschatten von Baerbock die Hauptstadt zu erobern, ins Rutschen gekommen. Langsam schob sich die SPD in Berlin - wie im Bund - an den anderen vorbei. Dabei half, dass sich Spitzenkandidatin Giffey und Kanzlerkandidat Olaf Scholz gegenseitig beflügelt haben dürften. Am Ende aber legten die Grünen wieder zu.

Die gemeinsame Stärke von SPD, Grünen und Linken in Berlin spiegelt gleichzeitig die Schwäche von CDU und FDP wider. Beide haben es nicht geschafft, mit eigenen Themen zu punkten. Zudem ist der bekannte Slogan, Berlin sei arm, aber sexy, schon länger nicht mehr zu halten. Lange war Berlin weltweit die einzige Metropole eines Industriestaates, die wirtschaftlich schwächer war als der Rest des Landes. Seit 2019 aber übersteigt das in der Hauptstadt produzierte Bruttoinlandsprodukt den deutschen Mittelwert. Berlin zieht die Bundesrepublik inzwischen nach oben, nicht mehr nach unten.

Nicht mehr "arm", aber noch immer "sexy"

Auch wenn man "arm" streichen kann, "sexy" ist Berlin geblieben. Das Lebensgefühl strahlt über Deutschland hinaus, die Zahl der Zugezogenen summiert sich jedes Jahr auf die Größe einer Kleinstadt. Die Hauptstadt als Aushängeschild hat freilich eine Kehrseite. Die Verwaltung ist überlastet, auf den Straßen steht man im Dauerstau, es überwiegen prekäre Jobs, die Zahl der Sozialleistungsempfänger ist unvermindert hoch, die Wohnungsmieten werden unbezahlbar, der Ausbau der Fahrradwege lässt zu wünschen übrig. Zieht man mal ab, dass der Berliner ohnehin gut darin ist, im Jammer-Modus aufzuzählen, was alles nicht geht, bleibt eine Menge übrig, was der neue Senat anzupacken hat. Schön wär's, wenn das jetzt auch passiert.

Die nächste Regierende wird zudem alles daransetzen müssen, dass die weltoffene Hauptstadt erhalten bleibt, die gerade dieses Wochenende zu spüren war. Die Berliner hatten eine Mega-Wahl hinter sich zu bringen: Abgeordnetenhaus, Bezirksparlamente, Volksabstimmung über die Enteignung von Wohnungskonzernen. Und es war Marathon - der erste seit Corona, möglich dank eines ausgetüftelten Gesundheitskonzepts. Eine Stadt mit erschöpften wie begeisterten Menschen aus aller Welt, die sich mit einheimischem Wahlvolk vermischen - das ist Berlin.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5422023
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.