Süddeutsche Zeitung

Hörspiel "Saal 101":Ein deutsches Anti-Helden-Epos

Lesezeit: 5 min

Der ARD ist ein Hörspiel über den NSU-Prozess gelungen: Zeitgeschichte der düsteren Art, intensiv und aktuell.

Von Annette Ramelsberger

Der Vater des Mordopfers, der sich auf den Boden des Gerichts wirft und dem Richter zeigt, wie er seinen sterbenden Sohn im Arm hielt, sein "Lämmchen". Die junge Ärztin, von einer Sprengfalle des NSU schwer gezeichnet, die den Tätern ins Gesicht sagt: "So schnell lasse ich mich aus Deutschland nicht vertreiben." Der rechtsradikale Zeuge, der über drei Tage hinweg auf jede Frage nur antwortet: "Kann mich nicht erinnern, keine Ahnung, nicht dass ich wüsste." Und Beate Zschäpe, die sagt, sie habe von allem nichts mitgekriegt. Sie, die mit ihren Gefährten die Wohnung und das Leben teilte.

Der NSU-Prozess ist zu Geschichte geronnen. Der Richter, die Angeklagten, die Staatsanwälte - sie erscheinen mit dem Abstand von drei Jahren fast schon wie Rollen in einer klassischen Tragödie. Die von Schmerz zerrissenen Eltern der Opfer, die selbstgerechten Väter der Täter, die verstockten Zeugen und dann der Richter, der fünf Jahre lang fragt und fragt und fragt und am Ende kein einziges Wort zu den Angehörigen spricht. Der NSU-Prozess ist mittlerweile zur Chiffre geworden für den Zustand Deutschlands, für all die Versäumnisse im Kampf gegen rechts und den mühseligen Versuch, mit den Mitteln des Rechtsstaats die jüngste Geschichte des Landes aufzuarbeiten.

Die ARD geht einen Weg, der mühsam ist

Schon früh haben sich die Theater des Stoffs angenommen, mal grell und kreischig wie am Schauspiel Frankfurt. Mal intensiv und eindringlich wie am Staatstheater Kassel oder am Residenztheater München, mal als Ersatzgericht wie im Schauspiel Köln mit dem "NSU-Tribunal". Spielfilme haben versucht, das Monströse der Taten einzufangen: zehn Morde, 15 Raubüberfälle, drei Sprengstoffattentate, und ein Land, das alles sah und doch nichts verstand.

Manche Regisseure haben aus der Angeklagten Beate Zschäpe, verurteilt als gleichberechtigte Mittäterin bei zehn Morden, ein naives, verführtes Mädchen gemacht. Manche Autoren haben aus den Pannen bei den Ermittlungen eine Verschwörungsgeschichte gestrickt nach altbekanntem Muster. Manchen reichte die Gewalt nicht, sie mussten sie auch mit Sex würzen. Doch allen diesen Versuchen ist gemeinsam: Sie sehen den NSU und den Prozess gegen ihn als einen Steinbruch der deutschen Geschichte, aus dem sich jeder heraushackt, was ihm wichtig erscheint.

Die ARD geht nun einen anderen Weg. Einen Weg, der viel mühsamer ist für die Macher, die sich nichts ausdenken, nichts heraushacken, sondern sich an dem orientieren, was wirklich war. In einem 24-teiligen Hörspiel des Bayerischen Rundfunks unter der Regie von Ulrich Lampen, das am 19. und 20. Februar zeitgleich auf zahlreichen Kulturradios der ARD ausgestrahlt wird, wird der NSU-Prozess dokumentiert - anhand der Mitschriften der ARD-Reporter, die fünf Jahre lang im Gericht gesessen haben.

Sie erklären in dem Hörspiel Saal 101, wie der Prozess funktionierte, warum der wahrscheinliche vierte Mann des NSU als freier Mann den Gerichtssaal verließ, warum die Opfer so enttäuscht waren. Sie schrieben mit, was sie hörten. Das Hörspiel lässt jetzt hören, was sie schrieben. Wenn Zschäpe ihren Anwalt Plattitüden vortragen lässt wie: "Es war eine unendliche Leere in mir" bis zum aufgebrachten Münchner Mordermittler, der gefragt wird, warum die Polizei nicht auf die Radfahrer an den verschiedenen Tatorten aufmerksam wurde, und antwortet: "Haben Sie schon mal einen Neonazi auf einem Fahrrad gesehen?"

Lübcke, Halle, Hanau - alles nach dem NSU passiert

Das Hörspiel überwindet das unübersichtliche Puzzle an Zeugen und Beweisthemen, das das Gericht mühselig zusammenfügte. "Ein System, das wir Außenstehende nie verstanden haben", wie ein Reporter sagt. Saal 101 fasst die wichtigen Themenkomplexe zusammen, bündelt sie, verdichtet sie. Erst durch diese Bearbeitung wird der Stoff hörbar.

Die Stimmen von Schauspielern wie Martina Gedeck, Bibiana Beglau, Thomas Thieme und Thomas Schmauser ziehen einen in diesen Gerichtssaal, ein Sog, dem man sich nicht entziehen kann. "Man kann eintauchen und sich überwältigen lassen von dieser Fülle", sagt Chefdramaturgin Katarina Agathos, die manchmal zweifelte, wie sie dem gewaltigen Stoff gerecht werden kann. "Zwischendurch kann man verloren gehen im Material." Aber: Nach diesen zwölf Stunden ist man nicht nur erschlagen, man versteht auch mehr.

Seit 2014 hat der Bayerische Rundfunk an diesem Mammutwerk gearbeitet. Es zeigt, wozu öffentlich-rechtlicher Rundfunk fähig und auch nötig ist. Es hat Podcasts zum Thema NSU gegeben, gerade auch von der Süddeutschen Zeitung, es wurden Bücher geschrieben von Gerichtsreportern mit mehr als 2000 Seiten Wortprotokoll.

Aber ein zeitgleich in der ganzen Republik ausgestrahltes Projekt entfaltet eine Wucht, die angemessen ist in einer Zeit, in der ein Kommunalpolitiker wie Walter Lübcke von einem Neonazi erschossen wird, ein Antisemit die Synagoge von Halle überfällt und ein rechter Verschwörungsideologe einen Anschlag auf Migranten in Hanau verübt, mit zehn Toten. Das alles ist bereits post NSU geschehen. Der NSU ist zur Bezugsgröße geworden, an der sich neue Rechtsradikale orientieren. Bis hin zu dem Mann aus der hessischen Polizei, der sich NSU 2.0 nennt und seit zwei Jahren eine türkischstämmige Anwältin bedroht.

Kaum einem Reporter ist es gelungen, sich das Grauen des NSU vom Leib zu halten

Tim Aßmann, heute ARD-Korrespondent in Tel Aviv, ist einer der Reporter, die aus dem NSU-Prozess berichteten. Und obwohl er jetzt seit Jahren an einer Nahtstelle der Weltpolitik arbeitet, ist auch für ihn der NSU-Prozess "eine der wichtigsten beruflichen Erfahrungen" seines Lebens. Bei aller professionellen Distanz ist es kaum einem Reporter gelungen, sich das Grauen des NSU über die Jahre vom Leib zu halten. An Aßmann kroch es hoch, als die Urlaubsbekannten des NSU-Trios im Gericht aussagten.

Es waren zwei liberale, aufgeschlossene Familien, die mit Beate Zschäpe und ihren zwei Gefährten jahrelang auf Fehmarn campten. Im Nachhinein mussten sie erkennen, dass sie sich mit rechten Mördern angefreundet hatten. "Ich kannte diesen Campingplatz", sagt Aßmann. "Ich habe mich gefragt, wie das für mich gewesen wäre, wenn ich mich mit den Dreien angefreundet hätte, wenn die bei mir zu Besuch gekommen wären und unter meinem Dach geschlafen hätten." Man will es sich nicht ausmalen. Im Prozess aber hörte man, wie es war.

Wie der Prozess selbst, lässt einen das Hörspiel nicht kalt. Die Aussagen der Zeugen, der Opfer, der Prozessbeteiligten fügen sich zu einem Stück Zeitgeschichte, zu einem deutschen Anti-Helden-Epos, moderne Klassik der düsteren Art. Nichts ist vergilbt in den Jahren seit dem Urteil, nichts irrelevant geworden. Und nichts ist erfunden, nichts zugespitzt. Der Prozess ist Drama genug.

Doch all das würde es nicht geben, wenn man die Dokumentation des Prozesses der Justiz selbst überlassen hätte. Das Gericht hat nämlich bewusst darauf verzichtet, das Verfahren für die Nachwelt zu bewahren.

Es gibt keinen Mitschnitt, kein offizielles Video, kein Audio von dem Prozess, obwohl die Verteidiger immer wieder darauf gedrängt hatten. Mitschnitte waren verboten, die Verhandlung wurde nicht gestreamt, man kann sie nirgendwo im Internet finden. Es gibt nichts außer den Mitschriften von Journalisten - die von ARD und Süddeutscher Zeitung, die daraus jeweils eigene Werke produziert haben, zudem die Tageszusammenfassungen der Aktivisten von NSU-Watch, abrufbar im Netz. Diese Prozessbegleiter haben die Arbeit der Justiz gemacht und dafür gesorgt, dass dieser historische Prozess erhalten bleibt. Zwölf Stunden Hörspiel an zwei Abenden sind da gerade lang genug.

Saal 101 . 19. und 20. Februar jeweils um 20.05 Uhr in den Kulturradios von BR, NDR, Radio Bremen, WDR, SWR, RBB, HR, MDR, SR und Deutschlandfunk. Und als Podcast in der ARD-Audiothek.

SZ-Gerichtsreporterin Annette Ramelsberger hat selbst fünf Jahre lang aus dem NSU-Prozess berichtet.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5208907
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.