Süddeutsche Zeitung

Journalisten im Exil:Früher in der Fremde

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Eine Ausstellung blickt zurück auf die Zeiten von Radio Free Europe im München des Kalten Krieges - die Schau ist angesichts der Entwicklungen in Russland unfreiwillig aktuell.

Von Moritz Baumstieger

Die Exilanten, die er mit Post versorgte, sie kamen ihm vor, als lebten sie in einer "rückwärtsgewandten Utopie". Damals, Ende der Sechzigerjahre, sauste Etienne Balley als Schüler bei seinem Sommerjob mit einem Skateboard über lange Gänge und verteilte Briefe an die Menschen in den Büros. Ehemalige Faschisten waren unter ihnen, heimliche Monarchisten, sicher noch einige andere -isten. Sein Vater war einer von ihnen.

Etienne Bellay ist in Paris geboren, sein Vater Emil stammte aus der Slowakei. Als ein Flüchtling des Kalten Krieges erlebte der, was so oder ähnlich vielleicht auch viele derer erfahren werden, die sich heute aus Putins Russland absetzen: dass Kompromisse zwischen Wünschen und Möglichkeiten bei der Wahl des neuen Wohnorts nötig, aber nicht einfach sind. Dass die alte Heimat zugleich nicht aus dem Kopf verschwinden mag, dass die in der neuen Heimat aufwachsende nächste Generation das immer schwerer nachvollziehen kann. So ging es Emil Bellay, so ging es vielen von dessen Kollegen, die in dem langgestreckten Gebäude arbeiteten, in dem Sohn Etienne die Post ausfuhr. Das Gelände am Englischen Garten in München, es wirkte auf ihn "wie ein Zoo, ein Tierpark".

Dort, wo heute Studenten der Ludwig-Maximilians-Universität Seminare der Politik- und Kommunikationswissenschaft besuchen, hatten bis Mitte der Neunzigerjahre Radio Free Europe (RFE) und Radio Liberty (RL) ihren Sitz. Zwei Radiosender, die ihre Inhalte in Richtung Osten funkten, auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs, wo kein unabhängiger Journalismus möglich war. Wobei: Ob vor allem in der frühen Phase des Kalten Krieges von München aus immer nur "die reine Wahrheit" in den Äther gepustet wurde, wie es der ebenfalls aus der Slowakei stammende Mitarbeiter Tibor Molek formuliert, kann angesichts der Finanziers des Senders zumindest angezweifelt werden: Bis in die Siebzigerjahre hinein gab die CIA das Budget, journalistisch ausgewogener wurde das Programm, als anschließend der US-Kongress zahlte.

Statt mit Störsendern wird heute der Informationsfluss durch Internetsperren verhindert

Die Erinnerungen des stramm antikommunistischen Journalisten Molek und des etwas ironischer auf die Kalten Krieger guckenden Journalistensohns Etienne Balley sind zwei von fünf Zeitzeugenberichten, die derzeit in einer gemeinsamen Ausstellung des Stadtmuseums und des Jüdischen Museums zu sehen und hören sind. Dort beleuchtet man mit "Radio Free Europe. Stimmen aus München im Kalten Krieg" ein bedeutendes Stück Stadtgeschichte - die vor Ort bislang seltsam unausgeleuchtet blieb, vielleicht, weil die unmittelbar vorausgehenden Kapitel der Geschichte der früheren "Hauptstadt der Bewegung" die Aufmerksamkeit stark absorbierten.

Die kleine und dennoch auf die beiden Museen verteilte Ausstellung präsentiert nun einen Gang durch die Geschichte der Sender in der Stadt, Doppelagenten-Storys und solche von Anschlägen inklusive - sowie kleine Überraschungen: Auch der lange in Yale lehrende Germanist Peter Demetz erzählt in einem Video im Jüdischen Museum von seinem Intermezzo als Kulturredakteur bei RFE. Dessen Betrieb von München aus fand dann Mitte der Neunziger ein Ende: Nachdem sich der damalige US-Präsident Bill Clinton in handschriftlich unterzeichneten Briefen an die Mitarbeiter bedankte ("On behalf of a grateful nation: (...) RFE/RL played a crucial role in the development of democratic forces in Eastern Europe and the former Soviet Union"), zogen die Sender 1995 nach Prag um.

Wie sich die Geschichte manchmal zu wiederholen scheint - dieser Aspekt macht die kleine Ausstellung in Zeiten des Ukraine-Krieges auch über den Münchener stadtgeschichtlichen Blick hinaus interessant: Statt mit Störsendern wie damals wird heute der freie Informationsfluss durch Internetsperren verhindert. Und einige Fragen, vor denen die Journalisten von Radio Free Europe und Radio Liberty standen, stellen sich heute so ähnlich auch die aus Russland geflohenen Kollegen: Erreichen die Programme, die Gegenöffentlichkeit schaffen sollen, überhaupt ein Publikum? Wie nah sind sie an dessen Lebenswirklichkeit überhaupt noch dran? Und, die eigene Lebenswirklichkeit betreffend: Wäre es nicht vielleicht besser, sich im Exil auch geistig einzurichten?

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