Süddeutsche Zeitung

Polizeiruf 110 aus München:Keine Sonntagskommissarin

Lesezeit: 2 min

Von Claudia Tieschky

Schauen Sie "Die Lüge, die wir Zukunft nennen" nicht bloß ein Mal, schauen Sie es gleich ein zweites Mal. Das bringt Fleißpunkte für Nachhaltigkeit, und außerdem: Wie oft möchte man das schon bei einem Fernsehkrimi empfehlen?

Wenn Fernsehen mal ausnahmsweise nicht wie immer ist, sondern ganz anders - was passiert? Der Selbstversuch ergibt: Verwirrung. Abwehr. Noch mehr Verwirrung. Wenn es aber so intensiv ist, solche Bilder hat (Kamera Martin Farkas) und an Orte führt wie dieser Münchner Polizeiruf 110, dann ahnt man, dass man mit Abwehr schwer was verpasst.

Man weiß in diesem Film lange nicht, wo oben und unten ist. Man braucht Zeit, sich zu sortieren, zu verstehen, welche Regeln hier gelten. Oben, das ist normalerweise das Ermittlerteam. Und ganz oben ist in der Logik des Sonntagabendkrimis die Gerechtigkeit, die am Ende hergestellt wird, egal, wie entzückend es im Privatleben der Kommissare menschelt.

Gekreuzigt, gestorben und begraben. Und drüber weht eine Trompete

"Die Lüge, die wir Zukunft nennen" spielt, das ist nicht unwichtig, in der Au und Giesing - da, wo der andere Münchner Marienplatz liegt, der Mariahilfplatz. Eine gefährliche Gegend war das früher, eine, in der nicht die feinen Leute wohnen, sondern die anderen. Das Polizeiteam kommt auch von da. Einer arbeitet beim Escort nebenher. Eine mit dem räudigsten Münchnerisch wird gefragt, wieso sie mit ihrem arabischen Namen bei der deutschen Polizei ist. Sie sind in einer ehemaligen Schule einquartiert und hören ein Unternehmen ab, das Insiderhandel treibt. Warum nicht von diesem Wissen profitieren? Draußen braust der Auer Mühlbach, man legt zusammen, trinkt zusammen, verzockt sich zusammen.

Es gibt in diesem Film Jagdszenen im grünen Dickicht am Bach, mehr wilder Wald als Stadt, die Truppe mehr Räuberbande als Beamte, beim Kostümfest ziehen sie mit Weib und Kind durch die Vorstadt, und es geht der Sensenmann voran. Dann schießen sie sich gegenseitig ab, weil sie in die Enge getrieben sind, oder wegen Geld, und einem, mit dem es nicht mehr geht, wird gezeigt, wohin er sich selber den Schuss setzen muss. Das Leben im archaischen Rhythmus: gekreuzigt, gestorben und begraben. Drüber weht eine existenzialistische Trompete.

Günter Schütter hat bereits für den Münchner Polizeiruf mit Matthias Brandt die verstörende Episode "Der Tod macht Engel aus uns allen" geschrieben, und auch 1994 das Buch zu Die Sieger von Dominik Graf, der nun Regie führte bei "Die Lüge, die wir Zukunft nennen". Die beiden haben der neuen Ermittlerin Bessi Eyckhoff (Verena Altenberger) ein paar sehr schöne Szenen und Sätze gegeben. Sie wird in ihrem zweiten Fall sichtbar als eine Person, die einfach nie Angst hat. Keine von außen, keine von oben, keine Sonntagskommissarin. Verstrickt in ihre Stadt.

Das Erste, Sonntag, 20.15 Uhr.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4713018
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 07.12.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.