Süddeutsche Zeitung

Berliner Zeitung:Eine Redaktion im Schleudergang

Lesezeit: 6 min

Von Verena Mayer und Jens Schneider

Die Ausgabe der Berliner Zeitung zum 30. Jahrestag des Mauerfalls sollte etwas Besonderes sein. Ein Stück Zeitgeschichte, wie es nur die ursprünglich aus dem Osten Berlins stammende Zeitung liefern konnte - im Guten wie im Schlechten.

In Essays und Reportagen erinnerten ihre Autoren an die Umbrüche, die vor allem ostdeutschen Leser erlebt haben. Unbekanntere Kapitel der Geschichte wurden aufgerollt, die Zeitung spürte dem feministischen Erbe der DDR nach. Und dann waren da die Seiten 2 und 3.

Auf 686 Zeilen veröffentlichte das Ehepaar Silke und Holger Friedrich unter dem Titel "Berliner Erklärung" einen Text über seine Weltsicht, in dem es über den letzten SED-Chef Egon Krenz hieß, er habe "Millionen Menschen selbstbestimmte, positive Lebenswege ermöglicht". Sie seien ihm dankbar. Krenz stand im Herbst 1989 für den bizarren letzten Versuch des Regimes, sich an der Macht zu halten. Dieser Holger Friedrich ist der Unternehmer, der die Zeitung eben erst zusammen mit seiner Frau Silke gekauft hat, um sie zu retten.

Das Gutachten ist die Nacherzählung eines Stücks DDR-Geschichte

Für einen Moment wirkte es im Spätsommer, als hätten sich gute Feen mit Ostbiografie dieser so geplagten Redaktion erbarmt, damit sie in wirtschaftlich schweren Zeiten weitermachen kann.

Aber kurz nach der eigentümlichen "Berliner Erklärung" kam durch Recherchen der Welt am Sonntag auch noch ans Licht, dass Holger Friedrich für die Stasi gespitzelt hatte, als Soldat der Nationalen Volksarmee, Deckname Bernstein. Friedrich räumte das ein, aber verwies darauf, dass er massiv unter Druck gesetzt worden sei, nachdem die Stasi entdeckt hatte, dass er über eine Flucht aus der DDR nachdachte. Es gibt auch eine Opferakte. Diese war unter den Dokumenten, die er zwei renommierten Experten übergab, der früheren Chefin der Stasi-Unterlagenbehörde Marianne Birthler und dem Historiker Sascha-Ilko Kowalczuk. Beide legten an diesem Mittwoch ein 25-Seiten-Gutachten vor, in dem sie darauf verzichten, den Befund "politisch oder moralisch zu bewerten".

So kann jeder selbst die Nacherzählung eines Stücks DDR-Geschichte anhand der Biografie eines jungen Mannes lesen, der erst massiv bespitzelt und dann von der Stasi als "Inoffizieller Mitarbeiter" gewonnen wurde - "unter dem Druck, ansonsten strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden", so das Gutachten. Seine Arbeit als IM dauerte vier Monate 1988. In einem bekannten Fall führten die von Friedrich gegebenen Informationen "zu einer strafrechtlichen Belehrung eines Anderen", es könnte ein "erhebliches Einschüchterungspotenzial" für den Betroffenen damit verbunden gewesen sein.

Weitere Folgen für mögliche Betroffene ließen sich nur mit Akten ersehen, die über Dritte eventuell existieren. "Sehr wahrscheinlich erscheint das nicht", schreiben die Gutachter. Sie stellen fest, "dass er zum IM gepresst wurde". Er beendete die Zusammenarbeit, als ein neuer Führungsoffizier kam, und "betonte sofort, dass er diese nie freiwillig eingegangen wäre".

Die Gutachter betonen ausdrücklich ihren Respekt gegenüber den Redaktionen des Berliner Verlags, "die in einer schwierigen Situation versucht haben, trotz bestehender Abhängigkeitsverhältnisse so unabhängig wie irgend möglich vorzugehen und vor allem den Leserinnen und Lesern die Möglichkeit zu geben, sich ein eigenes Urteil zu bilden".

So viel ist schräg gelaufen in den letzten Wochen. Wenn sie keine Krisenrunden führten, mussten die Redakteure nach außen erklären, warum noch alles gut werden soll. Und ob sie selbst daran glauben.

Der Multimillionär Friedrich hat sein Vermögen in der Software-Branche gemacht. Er trat nun auf wie ein Mäzen für das Gute, Wahre, Schöne. Die Friedrichs kündigten an, Leute einstellen zu wollen, neue Software wurde installiert, diese Woche erst wurde Matthias Thieme als zusätzlicher Chefredakteur fürs Digitale geholt. Nach "den Jahren des Aushungerns", wie es ein Mitarbeiter nennt, sei das "endlich eine gute Entwicklung". Es gibt wohl keine andere vergleichbar große Zeitung, die in den vergangenen drei Jahrzehnten so durchgeschüttelt wurde wie diese.

"Aber mir fällt auch keine andere ein, deren Redaktion dennoch so couragiert dasteht", sagt ihr Chefredakteur Jochen Arntz bei einem Gespräch vor wenigen Tagen. In der Geschichte der Zeitung seit 1990 spiegelt sich die Hybris der ersten Nachwendejahre genauso wie die anschließende Verzweiflung. Zu Beginn wollte ein Verlag aus der früheren SED-Bezirkszeitung eine deutsche Washington Post machen, das scheiterte. Es gab danach noch viele Pläne, begleitet von einer ständig sinkenden Auflage.

Arntz hat schon seine Redakteursausbildung bei der Berliner Zeitung gemacht und kehrte nach einigen Jahren bei der SZ in München nach Berlin zurück. Unter dem DuMont-Verlag, dem letzten Besitzer, setzte er ab 2016 einen harten Sparkurs um. Damals verließ die Berliner Zeitung ihr Haus am Alexanderplatz und wurde mit dem Berliner Kurier zusammengelegt. Viele verloren ihre Jobs, auch Altgediente. Einige gingen voller Bitternis.

Aber es sei gelungen, so sagt Arntz, die Zeitung in den vergangenen drei Jahren aus einer defizitären Situation herauszuführen, 2018 habe man deutliche Gewinne gemacht. Aktuell dürften die Zeiten - wie für die meisten Blätter - wirtschaftlich schwieriger sein. Die verkaufte Auflage lag im vergangenen Quartal bei knapp 85 000 Stück, vor zwanzig Jahren bei mehr als 200 000.

Als die neuen Investoren kamen, empfand die Redaktion das deshalb "als Befreiungsschlag", erzählt Chefredakteur Arntz. Denn da waren zwei gekommen, die einen Aufbruch versprachen. "Und die Dinge auch tatsächlich sehr schnell hinbekommen haben", sagt Arntz. Die neue Webseite der Berliner Zeitung etwa sei in Rekordzeit entstanden. "Die ist viel besser als das, was wir vorher hatten." Jetzt haben viele Redakteure genug vom Dauererklärmodus. Man habe schon vieles erlebt, sagt einer. "Da kommt noch mal all das zusammen, was über all die Jahrzehnte geschah." Ein anderer: "Es wurde lange über unsere Köpfe entschieden, wir wurden ausgepresst, es war eine einzige große Sparmaßnahme. Und jetzt müssen wir uns redaktionell auch noch mit uns selbst beschäftigen."

Die Rubrik "In eigener Sache" auf der Webseite füllt sich fast so stetig mit Stellungnahmen der Zeitung, als sei sie ein Newsressort. Und dabei geht es nicht nur um die DDR-Geschichte, sondern auch die redaktionelle Unabhängigkeit.

Und dann hatte Friedrich angeregt, über eine Firma zu berichten, an der er beteiligt ist

Denn vor Kurzem erschien ein Artikel über die Firma Centogene, ein Biotech-Unternehmen aus Rostock, das gerade an die US-Technologiebörse Nasdaq ging. Die Anregung, über den laut Artikel "Weltmarktführer in der gentechnischen Analyse seltener Krankheiten" zu schreiben, kam vom Eigentümer Friedrich. Der ist allerdings auch an dem Unternehmen beteiligt. Ein klassischer Interessenkonflikt. Das sei der Redaktion nicht bekannt gewesen, erklärte diese auf der Webseite. Man werde künftig genau prüfen, ob "geschäftliche Interessen des Unternehmerehepaares Friedrich oder unseres Hauses davon berührt sind - und dies öffentlich machen". Es sind Selbstverständlichkeiten, die diese Neuverleger nun vor aller Augen lernen.

"Ich glaube einfach, dass da zwei Erfahrungswelten aufeinandertreffen, die bisher nicht so in Verbindung waren", sagt Chefredakteur Arntz. "Da gelten andere Codes und andere Regeln, und die müssen wir miteinander in Einklang bringen." Es gebe viele Gespräche mit den Verlegern, "das ist ein offener, intensiver Austausch". Die Antwort seiner Redaktion auf die Lage sei: "Alle Dinge aufklären, dabei transparent sein, und dann die Chancen nutzen."

Es könne trotz des kritisierten Editorials weiter Texte der Friedrichs im Blatt geben, sagt Arntz. "Ich denke schon, dass die Verleger das Recht haben, ihre Meinung in einem solchen Editorial kundzutun." Aber es gehöre genauso dazu, "dass dann auch Texte erscheinen, die sich mit den Meinungen der Verleger auseinandersetzen".

In der Redaktion fühlt sich manch einer in die Vergangenheit zurückkatapultiert. Als 2008 aufflog, dass zwei leitende Redakteure IMs bei der Stasi waren, ließ man die Redaktion durchleuchten. Alle Mitarbeiter, die zu DDR-Zeiten 18 Jahre alt waren, mussten bei der Stasi-Unterlagenbehörde einen Antrag auf Akteneinsicht stellen. Ein Ehrenrat aus externen Experten arbeitete sie auf. Ein Mitarbeiter ging freiwillig, drei verloren ihre Leitungsfunktion oder durften nicht mehr politisch kommentieren. "Ich war überrascht", sagt Arntz über die Vorwürfe gegen seinen neuen Verleger. "Ich habe aber auch gleich gedacht, dass die Berliner Zeitung eine bewährte Tradition hat, mit dem Erbe umzugehen, gerade was die Staatssicherheit angeht." Es entspreche dieser Tradition, unabhängig zu bleiben, Experten anzuhören und nicht vorschnell ein Urteil zu fällen.

Auch die Redaktion macht, ohne eigene Wertung, das Gutachten öffentlich, in dem man detailliert nachlesen kann, wie die Stasi Briefe des unter Verdacht geratenen Friedrich las. Ins Visier der Stasi kam er, nachdem er als 16-Jähriger im ungarischen Grenzgebiet gesehen worden war und als Soldat bei der NVA sich einmal unerlaubt von seinem Standort entfernte.

Sein Schrank wurde durchsucht, die Stasi nahm Aufzeichnungen an sich, in einem schrieb er, sein Entschluss, zur Armee zu gehen, sei ein "ganz falscher" gewesen. Es gab umfangreiche Ermittlungen, weil er Freiheitslieder sang, Dinge wie "Die Mauer muss weg" sagte und mit seiner Meinung über die DDR nicht hinterm Berg hielt. Friedrich wurde fast durchgehend überwacht, selbst in einem Erholungsurlaub und als er an der Pädagogischen Hochschule in Potsdam studierte - das letzte Mal acht Tage vor dem Mauerfall.

Nun wird es um Friedrichs bisherige Aufarbeitung der Sache gehen. Er sorgte in den vergangenen Wochen für Irritationen. So erklärte er der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, er sei mit seiner Vergangenheit offen umgegangen - um im selben Interview festzustellen, dass die Reaktionen auf seine Stasi-Akte zeigten, dass die Verleger, wenn sie "früher damit offensiv umgegangen wären, keine Chance bekommen hätten", die Zeitung zu übernehmen.

Die Redaktion beansprucht zunehmend stärker eine eigenständige Rolle und will den Verlegern mit dem Selbstbewusstsein gegenübertreten, das zu dem von ihnen geforderten unabhängigen Journalismus ideal passen sollte. "Der Auftakt ist missglückt, da trete ich sicher niemandem zu nahe", sagt der Betriebsratsvorsitzende Frederik Bombosch. "Wir haben uns das anders vorgestellt."

Inzwischen hat sich ein Redaktionsausschuss gebildet. Mehrere Arbeitsgruppen erarbeiten ein Redaktionsstatut - eine Vereinbarung, in der die Grundregeln der redaktionellen Unabhängigkeit festgeschrieben sind und auch die Grenzen zwischen der Redaktion und der Geschäftsführung. "Wir sehen das nicht Ausdruck von Misstrauen, sondern als Beitrag der Redaktion zur Qualitätssicherung", sagt Bombosch.

Viele der Redakteure betonen ihre Sehnsucht, sich wieder auf die Zeitung zu konzentrieren. Deren Zukunft hängt, das wissen sie alle, weniger von der Vergangenheit des Verlegers ab und seiner Haltung dazu als vom Erfolg des Blatts beim Leser.

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Quelle:
SZ vom 12.12.2019
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