Süddeutsche Zeitung

Anne Will:Politikversagen von nationaler Tragweite

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Frustrierte Wissenschaftlerinnen, schuldlose Politiker: Bei Anne Will geht es um die dramatische Corona-Lage und eine allgemeine Impfpflicht. Und auch wenn es wehtut: Man müsste jetzt vorausdenken.

TV-Kritik von Dominik Fürst

Als Jens Spahn noch ein beliebter Bundesgesundheitsminister war, formulierte er im Frühjahr 2020 mit Blick auf die gerade erst anrollende erste Welle der Corona-Pandemie den vorausschauenden Satz, wonach "wir in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen". Nun sind mehr als ein paar Monate vergangen, die vierte Welle hat Deutschland fest im Griff, und es gäbe wirklich einiges zu verzeihen. Die Warnungen der Virologen vor der jetzigen Lage gab es ja schon im Sommer. Ein Problem ist nur, dass sich weit und breit niemand findet, der Fehler eingestehen würde.

Am Sonntagabend fragt Anne Will in ihrer Talk-Runde jeden der anwesenden Politiker, den saarländischen Ministerpräsidenten Tobias Hans (CDU), Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sowie die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, ob er oder sie sich Vorwürfe mache. Niemand nutzt die Gelegenheit, ein bisschen Demut zuzulassen und um Verzeihung zu bitten.

Hans gesteht immerhin, dass er noch vor ein paar Wochen dachte, man werde schon "durchkommen". Nun, man kam aber nicht durch. Die Impfquote ist zu niedrig, die Inzidenzen sind zu hoch, die Belegung der Intensivbetten in den Krankenhäusern hat ein kritisches Ausmaß erreicht. Deutschland ist zum internationalen Negativbeispiel im Kampf gegen die Corona-Pandemie geworden.

Virologin Brinkmann beklagt, dass immer noch nicht "proaktiv" auf die Menschen zugegangen werde

"Wie frustriert sind Sie", fragt Will die Virologin Melanie Brinkmann, die der Politik ein viel zu passives Verhalten vorwirft. "Man hat schon im Sommer gesehen, wie die Zahlen steigen", sagt Brinkmann und beklagt, dass noch immer nicht "proaktiv" auf die Menschen im Land zugegangen werde, wenn es um die Impfung geht. Da liege nun mal das Hauptproblem: in der hohen Quote der Nichtgeimpften, die in Deutschland immer noch bei etwa 30 Prozent verharrt.

Wohin die passive Haltung der Verantwortlichen in so einer Situation führt, erklärt dann schön anschaulich die Psychologin Cornelia Betsch. Man könne beobachten, dass die Menschen sich verantwortungsvoller verhalten, wenn die Zahlen steigen. Wenn die Politik dann aber nicht gegensteuere, lasse auch das Problembewusstsein der Bevölkerung wieder nach. "Es gibt zwar das RKI, das warnt, aber letztendlich wartet man auf die ( politische; Anm. d. Red.) Verordnung. Und wenn die nicht kommt, dann verhält man sich wieder unvorsichtiger." Man könnte an dieser Stelle von einem Politikversagen von nationaler Tragweite sprechen.

Weil die Situation aber ist, wie sie ist, und die Fehler der Vergangenheit nicht mehr gutzumachen sind, wird jetzt über eine allgemeine Impfpflicht diskutiert. Dass die Debatte an sich gut sei, darüber sind sich bei Anne Will alle einig. Fordern will die Impfpflicht hingegen niemand, zumindest keiner der Politiker.

Die Wissenschaftlerinnen in der Runde zeigen sich da weniger abgeneigt, auch schon mit Blick auf das kommende Frühjahr. Dass die vierte Welle irgendwann bricht, ist nämlich nicht unwahrscheinlich. "Aber auch dann brauchen wir ganz viele geimpfte Leute", sagt die Psychologin Betsch. In ihrer Warnung schwingt schon der Gedanke an eine fünfte Welle mit, an eine Endlosschleife dieser so frustrierenden, belastenden Notlage. Man möchte am liebsten gar nicht so weit vorausdenken - wenn es denn nicht so entscheidend wäre.

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