Süddeutsche Zeitung

#Aufschrei - was bleibt?:Wut muss sein

Lesezeit: 3 min

Tugendfuror oder netzfeministisches Meisterstück? Die Twitterkampagne #Aufschrei führte zur Renaissance eines unterschätzten Gefühls.

Ein Kommentar von Hannah Beitzer

Irgendwann haben sie einfach beschlossen: Es reicht. Was genau der Auslöser für die Twitterkampagne #Aufschrei war, in der zahlreiche Frauen Sexismus und sexuelle Belästigung öffentlich machten, lässt sich im Nachhinein nicht mehr so leicht sagen: War es der Artikel im Stern, in dem die Politikjournalistin Laura Himmelreich eine unangenehme Begegnung mit dem ehemaligen FDP-Spitzenkandidaten Rainer Brüderle beschrieb? Oder ein ganz ähnlicher Artikel im Spiegel, in dem Redakteurin Annett Meiritz über Sexismus in der Piratenpartei berichtete?

Wahrscheinlicher ist, dass sich hier vor einem Jahr etwas entlud, das sich schon eine ganze Weile angebahnt hatte - nämlich die Unzufriedenheit darüber, dass Männer und Frauen in Deutschland noch immer nicht wirklich gleichberechtigt sind. Immer noch verdienen Frauen im Schnitt 22 Prozent weniger als Männer, immer noch ist ein Großteil der Führungspositionen in der Wirtschaft von Männern besetzt, während Frauen sich häufiger und intensiver als ihre Partner um Haushalt und Kindererziehung kümmern.

Viele Aufregerthemen der vergangenen Legislaturperiode hatten mit Fragen der Geschlechtergerechtigkeit zu tun: Ist ein Betreuungsgeld sinnvoll? Verhilft eine Quote tatsächlich zu mehr Gleichberechtigung?

Ein weiteres Puzzleteilchen

#Aufschrei war nur ein weiteres Puzzleteilchen in einem Bild, das sich geformt hatte und im Januar 2013 zeigte: Der Feminismus und seine Anliegen sind noch lange nicht erledigt. Die Kampagne stieß auch deswegen auf so großen Zuspruch, aber auch auf so großen Widerstand, weil sie so konkret, subjektiv und wütend war. Von Benachteiligung im Beruf bis hin zu handfesten sexuellen Übergriffen stand alles nebeneinander, anklagend und - dem Medium Twitter entsprechend - klar und knapp.

Die Heftigkeit der Diskussion zeigte vor allem eins: Konflikte, die wir schon längst überwunden glaubten, haben wir in Wahrheit nur verdrängt. Auch im Jahr 2013 war mitnichten klar, wo Frauen und Männer in Deutschland eigentlich stehen. Wahrscheinlich war es der harsche Ton der Auseinandersetzung, der Bundespräsident Joachim Gauck dazu veranlasste, von "Tugendfuror" zu sprechen - eine Aussage, die beispielhaft für viele steht, die vor harten Auseinandersetzungen in gesellschaftlichen Fragen zurückschrecken.

Es ist immer bequemer, schmerzhafte Themen wie Sexismus für erledigt zu erklären. Denn wir sind uns doch alle einig - oder? Klar sollen Frauen und Männer gleichberechtigt sein. Steht ja auch schon im Grundgesetz. Und in Deutschland können Frauen schließlich studieren, arbeiten, heiraten oder nicht, Kinder kriegen oder nicht. Ist es da nicht eine persönliche Entscheidung, welche Prioritäten eine Frau setzt? Und auf die alten Grabenkämpfe - Männer gegen Frauen, Rabenmutter gegen Glucke - hatte eigentlich keiner mehr Lust. Lasst uns doch sachlich bleiben, ausgewogen, immer schön: einerseits - andererseits!

Dass es so einfach nicht ist, deutete sich schon in den Debatten um Betreuungsgeld und Quote an. Erst #Aufschrei aber hatte genügend Wucht, um die zähe Konsenssuppe, die spätestens in den Neunziger Jahren über das Thema Gleichberechtigung geschwappt war und es gnädig überdeckte, wegzuspülen. Die Kampagne weckte Emotionen, sprach jeden, der sie verfolgte, persönlich an. Männer hinterfragten ihr Verhalten - oder fühlten sich schlicht angegriffen. Männer wie Frauen stritten, wo eigentlich Sexismus anfängt und wie die Regeln, nach denen sich Menschen zueinander verhalten, überhaupt aussehen sollen.

Die Grenzen verliefen dabei nicht nur zwischen den Geschlechtern. Es gab zum Beispiel Frauen, die sich und ihre Geschlechtsgenossinnen durch #Aufschrei zu Opfern degradiert sahen. Aber auch Männer, die aufrichtig bestürzt waren, womit Frauen heute immer noch konfrontiert sind. Es gab Männer, die sich selbst im Alltag benachteiligt fühlten. Und Frauen, die durch #Aufschrei erst zu Feministinnen wurden.

Die Kampagne durchbrach rasch die Grenzen von Twitter und Blogosphäre, wo sie ihren Ausgang genommen hatte. Ihre Protagonistinnen und Protagonisten diskutierten plötzlich in den etablierten Medien mit all jenen, die die Debatte jahrelang dominiert hatten. Ohne die Wut, die der #Aufschrei bei vielen Beteiligten auslöste, hätte die Aktion diese Beachtung nicht erfahren.

#Aufschrei war unbequem

Die Emotionalität der Diskussion war auch extrem anstrengend. In erster Linie für diejenigen, die sehr persönliche Kränkungen und schlimme Erlebnisse öffentlich machten - und auf teils harsche Ablehnung stießen. Nicht wenige #Aufschrei-Aktivistinnen erhielten Mails mit wüsten Beschimpfungen, Drohbriefe sogar, ebenso die Stern-Journalistin Laura Himmelreich.

Unbequem war der #Aufschrei aber auch für alle, die sich plötzlich zwischen den Fronten wiederfanden, sich keiner Seite eindeutig zugehörig fühlten. Ist das Thema Sexismus auch in Wahrheit nicht viel zu komplex und vielschichtig für eine Twitter-Kampagne? Braucht es da nicht doch das Einerseits - Andererseits?

Die Antwort: Sicher ist es das. Und trotzdem passieren die wirklich interessanten Dinge dort, wo mal jemand mit dem allgemeinen Konsens bricht und sagt: Ich sehe das anders. Wo jemand nicht länger so tut, als könnte man Themen, die jeden angehen, lösen, indem man subjektive Empfindungen und persönliche Erfahrungen komplett ausklammert. Und wo jemand auch mal wütend wird. Wer einen #Aufschrei wagt, der macht sich zwar persönlich verletzlich. Doch im Zweifel hilft er damit vielen anderen, die sich das so niemals getraut hätten.

Lesetipp:

Stern -Journalistin Laura Himmelreich hat in einem Text ihre persönliche Bilanz der Sexismus-Debatte gezogen, die nach ihrem Artikel über Rainer Brüderle entbrannte.

Über die genauen Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern und mögliche Gründe dafür informiert dieser Artikel.

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