Süddeutsche Zeitung

Streaming statt Kino:Blockbuster für die Couch

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Filme wie die "Känguru-Chroniken" und "Trolls World Tour" laufen während Corona gleich online statt im Kino. Aber funktioniert die schöne neue Streamingwelt?

Von Tobias Kniebe

Sie haben knubbelige Gesichter und riesige Ohren, es gibt sie in allen Farben des Regenbogens, und ihre Frisuren sehen aus wie knallbunte Stichflammen, die mit feuerlöschendem Haarspray fixiert wurden. Vor vier Jahren haben sie dank Dreamworks Animation den Sprung aus den Kinderzimmern auf die große Leinwand geschafft. Aber dass die Trolle einmal, aus der Not geboren, eine Revolution im Kino anführen würden, hätte ihnen wahrscheinlich doch niemand zugetraut.

Jetzt ist es aber so weit: Das zweite Abenteuer der bunten Sagenwesen, "Trolls World Tour", hat am Donnerstag als erster großer Studiofilm in der Corona-Krise die Kinoauswertung komplett übersprungen. Für den Preis von 14,99 Euro kann man ihn im deutschsprachigen Raum für zwei Tage ausleihen - bei den gängigen Anbietern wie Sky Store, Amazon Prime Video, Apple TV, Google Play. Damit erprobt das Dreamworks-Mutterhaus Universal eine neue Strategie, um trotz der weltweiten Kinozwangspause im Geschäft zu bleiben.

Aus den USA, wo das Modell schon seit zwei Wochen getestet wird, gab es Erfolgsmeldungen. Universal verkündete, die bisher erfolgreichste Digitalpremiere hingelegt zu haben, auf allen beteiligten Streaming-Plattformen habe der Film Platz eins der Downloads erreicht, die Erlöse seien um das Zehnfache höher als die eines normalen Home-Entertainment-Filmstarts. Genaue Zahlen werden zwar, anders als bei Kinobesuchern, im Streamingbusiness nicht veröffentlicht, aber der beteiligte Anbieter Fandango etwa bestätigte außergewöhnlich hohe Zugriffe.

Mit diesem Großversuch setzt sich Universal von den meisten anderen Studios ab, die ihre heiß erwarteten Spitzentitel - den neuen James Bond, den zweiten Streich von "Wonder Woman", Tom Cruise mit seiner "Top Gun"-Fortsetzung - weit in die Zukunft verlegt haben. "Statt unsere Filme zu verschieben, wollten wir eine Option für die Menschen zu Hause schaffen, die zugänglich und bezahlbar ist", sagte Jeff Shell, der Chef von NBC Universal. Warner Brothers macht einen ähnlichen, zunächst begrenzten Schritt, wenn der Animationsfilm "Scooby!" im Mai online geht, Disney enthüllt sein Fantasy-Abenteuer "Artemis Fowl" im Juni ebenfalls digital, auf der eigenen Plattform Disney Plus. In Deutschland wiederum erprobt gerade X-Verleih mit seinen "Känguru-Chroniken" den vorzeitigen Sprung eines Spitzentitels auf die Downloadplattformen.

"Wir Kinobesitzer werden das nicht vergessen", zürnt ihr Verbandschef in den USA

Da liegt der Fall allerdings noch einmal anders, denn die Komödie um das arbeitsscheue, vorlaute Kreuzberger Beuteltier war noch regulär auf der großen Leinwand gestartet. Der Film stand auf Platz eins der Charts, 540 000 Besucher waren schon gezählt, als die deutschen Kinos coronabedingt ihre Türen schließen mussten. Anders als die US-Studios dürfen aber deutsche Kinomacher, die sich mit der Annahme von Fördergeldern auch gesetzlichen Bestimmungen unterwerfen, nicht einfach das Zeitfenster für die Kinoauswertung überspringen - es musste mit der Filmförderungsanstalt (FFA) verhandelt werden.

Heraus kam ein Modell, bei dem die Kinos jetzt mit fünfzehn Prozent der "Känguru"-Digitalerlöse beteiligt werden - ungefähr der Betrag, den X-Verleih dann auf seinen regulären Preis für die Option "Kaufen" bei Amazon, Apple TV, Maxdome und Videoload aufschlug. Das "Känguru" war von Anfang April an verfügbar, kostete 16,99 Euro und eroberte ebenfalls Platz eins auf vielen Downloadcharts. "Unser digital bisher bestverkaufter Titel", sagt die X-Verleih-Chefin Leila Hamid. "Doch diese Einnahmen ersetzen auf keinen Fall die Erlöse, die wir im Kino gemacht hätten." Genaue Zahlen werden auch hier nicht genannt - allerdings bleibt festzuhalten, dass die Hochpreisstrategie nur von kurzer Dauer war. Inzwischen kann man das "Känguru" auch für 4,99 Euro ausleihen, das liegt im Bereich aller anderen Heimkinotitel.

Dank der Beteiligung der Kinos gibt es hierzulande keine größeren Proteste gegen die neuen digitalen Strategien - anders in den USA. John Fithian, der Chef der Nationalen Vereinigung der Kinobesitzer in Amerika, wurde im Hollywood Reporter ungewohnt deutlich: "Alle anderen Studios haben klargemacht, dass das Modell Kino für sie weiterhin funktioniert, dass sie ihre Filme auf die Leinwand bringen werden, sobald das Virus erledigt ist. Alle haben mit uns geredet. Nur Universal hat das Modell unterwandert. Wir Kinobesitzer werden das nicht vergessen."

Die Kinos fürchten Präzedenzfälle, die das heikle Gleichgewicht auf dem Kinomarkt nach der Corona-Krise verändern könnten. Schon länger drängen die Studios, Produzenten und Rechteverkäufer darauf, die Zeit zu verkürzen, in der ein Film den Kinos exklusiv zur Verfügung steht - in den USA traditionell neunzig Tage, nach den deutschen Förderrichtlinien mindestens vier oder fünf, regulär aber sechs Monate. Erfolgsmeldungen zu profitablen Digitalpremieren in der Krisenzeit könnten den Konflikt weiter anheizen, aber vielleicht auch zu neuen Lösungen für die Zukunft führen.

"Die Krise ist eine Sondersituation, aber sie wird auch ein Brandbeschleuniger für die Branche sein", sagt Leila Hamid von X-Verleih. "Ein Film wie die ,Känguru-Chroniken' braucht ohne jede Frage ein exklusives Kinofenster. Aber die Diskussion, wie lange wir nach Kinostart auf die digitale Auswertung warten müssen, die gab es schon vorher, und wir sollten unbedingt gemeinsam Lösungen für die Zeit in und nach der Krise finden."

Sie deutet an, wo die Lösung liegen könnte: Ein schnellerer Sprung auf die heimischen Bildschirme, bei dem aber die Kinos wie im Fall des "Kängurus" finanziell beteiligt wären: "Es hilft gar nichts, in dieser Situation auf alten Prinzipien herumzureiten."

Was schließlich die Trolle mit den knallbunten Stichflammenfrisuren betrifft, könnte es sein, dass Universal sie am Ende doch nur als praktische Versuchskaninchen betrachtet - und nicht als ihren wertvollsten Besitz. Es gibt da nämlich noch zwei Filme, in die das Studio ungleich mehr investiert hat und von denen es sich ungleich höhere Gewinne erhofft. Einmal das Macho-Bleifuß-Geröhre "Fast and Furious 9", das im Mai kommen sollte. Und einmal die Rückkehr der kleinen gelben Publikumslieblinge mit der meckernden Lache, "Minions: The Rise of Gru", für den Sommer geplant. Beide sind ins kommende Jahr verschoben - für einen richtig großen, breitwandigen Kinostart.

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Quelle:
SZ vom 24.04.2020
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