Süddeutsche Zeitung

Populismus:Das Volk, das Volk, das hat immer recht

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Die Demokratie kann sich gegen Populisten nur behaupten, wenn sich die Bürger als Wertegemeinschaft verstehen. Fehlt der "Common Sense", bleibt von unserer Staatsform nur nutzlose Mathematik.

Von Thomas Steinfeld

Vor fast dreißig Jahren entstand in Schweden eine Partei, deren Programm aus drei Forderungen bestand: weniger Steuern, weniger Staatsapparat, weniger kriminelle Ausländer. Als die "Neue Demokratie" im Jahr 1991 in den Reichstag gewählt wurde, erklärte sie sich und ihresgleichen zum "Volk der Wirklichkeit" ("verklighetens folk"), in Abgrenzung zu den professionellen Politikern, die angeblich nicht von dieser Welt seien. Die "Neue Demokratie" dürfte die erste politische Organisation in einem westlichen Land nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen sein, die den Gegensatz zwischen einer diffusen Vorstellung von "Volk" und einer noch diffuseren Idee von "Elite" zu ihrer zentralen Botschaft machte.

Die "Neue Demokratie" gibt es schon lange nicht mehr. Die Partei ging im Jahr 2000 in Konkurs. Die Formel vom "Volk der Wirklichkeit" aber war so erfolgreich, dass sie einige Jahre später als Slogan einer anderen Partei zurückkehrte, nämlich der schwedischen Christdemokraten - wenngleich nunmehr gegen eine linksliberale "Kulturelite" gerichtet. Von dieser wurde behauptet, sie beherrsche die Medien. Diese Christdemokraten, die, anders als in Deutschland, in Schweden eine Partei für Pietisten und Antialkoholiker sind, ließen sich das "Volk der Wirklichkeit" sogar als Markenzeichen eintragen. Auch die Verwandlung eines Slogans in ein ideelles Monopol war wegweisend: Eine Realität, die unter dem Schutz des Urheberrechts steht, kann nichts anderes als eine Erfindung sein, auch wenn sie keiner für eine solche halten will. Populismus, erklärt der Basler Kulturwissenschaftler Sebastian Dümling in der Zeitschrift Merkur ("Volk durch Verfahren", Juni 2019) ziele darauf, "Simulationen zu finden, an denen sich das Da-Sein des Volks festmachen lässt".

Das "Volk" hat, wie auch die "Elite", in den vergangenen Jahren eine steile Karriere durchlaufen: in der "Alternative für Deutschland", vor allem in deren straßentauglichen Varianten, bei den "Gelben Westen" in Frankreich, bei den italienischen Ligisten. Schon lange entspricht dieses "Volk" nicht mehr dem "Volk", das in den Straßen von Leipzig demonstrierte, einzig dadurch, dass es sich selbst als "Volk" bezeichnete, die in der DDR stets behauptete Einheit von Volk und Führung bestritt und der Regierung auf diese Weise einen Dissens eröffnete, der bald nicht mehr zu überbrücken war. "Wir sind das Volk", hieß die Parole damals, mit der Betonung auf dem bestimmten Artikel, also im Sinne der "plebs", die sich gegen die Herrschenden erhebt. Später hieß es dann: "Wir sind ein Volk", wiederum mit der Betonung auf dem Artikel, dieses Mal aber dem unbestimmten. Er verwandelte sich dadurch in ein Zahlwort. Das "Volk" begriff sich in dieser Variante der Parole als "populus", also nicht in der Differenz zur Macht, sondern in der Differenz zu anderen Völkern.

In den populistischen Bewegungen, die gegenwärtig die im herkömmlichen Sinne demokratischen Politiker vor sich hertreiben, werden "das Volk" und "ein Volk", "plebs" und "populus", in eins gesetzt. Auf diese Weise entsteht ein "Volk", das sich, gleichgültig, was ihm gerade widerfährt oder was es zu verhandeln gibt, grundsätzlich im Recht glaubt, sich aber um die Verwirklichung dieses Rechts betrogen sieht: von bösartigen Eindringlingen aus dem Ausland einerseits sowie von einer "Elite" (wahlweise einer Bande von "elitären Hipstern", Jens Spahn) andererseits, die das "Volk" verrät, indem sie dessen Reichtum an angebliche Flüchtlinge verschleudert, indem sie sich ausländischen Konzernen und einheimischen Spekulanten an den Hals wirft, indem sie eine Kaste von Bürokraten, Funktionären und Halsabschneidern ernährt, die nichts Besseres zu tun haben, als sich die eigenen Taschen zu füllen und das "Volk" um die eigentlich ihm zustehenden Erträge seiner Arbeit zu bringen.

Mit dem Empört-Sein verbindet sich der Anspruch auf Gehör

Oft schon sind die Fiktionen offengelegt worden, die einem solchen Begriff von "Volk" zugrunde liegen. Das "Volk", im vereinten, emphatischen Sinn verstanden, ist eine Abstraktion, die von keiner "Wirklichkeit" gedeckt wird, sei diese nun ethnischen, sprachlichen oder kulturellen Charakters. Ein "Volk" ist, nüchtern betrachtet, nichts anderes als das Ensemble von Menschen, die ein Staat als seine Bürger betrachtet. Aber wer will das wissen? In der Fantasie der Empörten erscheint der Staat vielmehr als eine Institution, die in erster Linie und überhaupt für das Wohlergehen seines und nur seines "Volks" zu sorgen hat. Erfüllt der Staat, oder genauer: erfüllen die Politiker diese Ansprüche nicht, machen sie sich, in den Augen des "Volks", an ihren Bürgern schuldig. Mit dem Gefühl aber, man habe etwas Besseres verdient als die Behandlung, die einem von Staats wegen zugemutet wird, wie mit der Ehre, von der Hegel sagt, sie sei das "schlechthin Verletzliche": Es kennt keinen objektiven Maßstab. Es empört sich, wer sich empören will - worüber er sich empören will und in dem Grad, in dem er sich empören will.

Diese Empörung ist negativ bestimmt und will nicht zwischen eingebildeten und realen Anlässen unterscheiden. Sie besteht in der Wahrnehmung von Zumutungen, und die Zurschaustellung der entsprechenden "Wut" bildet den Kern des öffentlichen Engagements, was zur Folge hat, dass sich mit dem schlichten Faktum des Empörtseins, bis hin zu Thilo Sarrazin, auch der Anspruch auf öffentliches Gehör zu verbinden scheint. Dem Engagement eine politische, argumentativ fassbare Richtung zu geben, widerspräche dabei dem Anspruch auf Authentizität, der mit der Selbstinszenierung der Betroffenheit verbunden ist: Ein Programm, das über die Aufzählung von vermeintlichen Zumutungen hinausginge, wäre nur um den Preis von Einschränkungen zu haben, was im Übrigen auch für alle Versuche gilt, große Kategorien wie "Volk", "Nation" oder "Wir" auf ihren rationalen, historischen oder auch nur irgendwie empirischen Gehalt hin zu prüfen.

Dass "es" irgendwie reicht, ist dagegen immer schon ausgemacht. Geistfeindlichkeit gilt hier als Befreiung, und jeder noch so begründete Hinweis auf die Empirie erscheint als Versuch, dem "Volk der Wirklichkeit" die ihm rechtlich zustehende Berücksichtigung zu entziehen. Mit "Faschismus" haben diese Bewegungen, entgegen manchen Behauptungen, bislang nur bedingt etwas zu tun (nämlich im Hinblick auf die Volksgemeinschaft), umso mehr aber mit einer Art formaler Radikalisierung der Demokratie jenseits der "Wertegemeinschaften". Vor ein, zwei Jahren hätte man noch gedacht, dass die sogenannten rechtspopulistischen Bewegungen der Demokratie irgendwann den Garaus machen. Mittlerweile stellen sich die Verhältnisse anders dar: als eine Übernahme der Demokratie zugunsten eines "Volks der Wirklichkeit", das sich um seinen fiktiven Charakter nicht schert.

Die "Elite" ist nunmehr ein hässliches Phantom

In dieser Radikalisierung gibt sich ein Grundwiderspruch des Demokratischen zu erkennen: Es hat nur Bestand, wenn sich eine deutliche Mehrheit des Wahlvolks in den wesentlichen Anliegen einig ist. Ist es mit der Wertegemeinschaft vorbei, wird offenbar, dass es keine inhaltliche Bestimmung der Demokratie gibt und ihr vielmehr rein mathematische Verhältnisse zugrunde liegen. Anders formuliert: Die Demokratie, im herkömmlichen Sinn begriffen, kann sich nicht verteidigen, wenn der lange Zeit bestehende "Common Sense" von einer großen Wählergruppe in Zweifel gezogen oder gar bekämpft wird. Sie kann, weil sie sich über den Willen des "Volkes" definiert, nur mitmachen. In der Folge bewegen sich die meisten europäischen Parteien, und nicht zuletzt die sozialdemokratischen, in die Richtung, die von den populistischen Bewegungen vorgegeben wurde, und zwar in einem Maß, das noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen wäre: Die heftige Niederlage der Dänischen Volkspartei bei den nationalen Wahlen in der vergangenen Woche erklärt sich zu einem großen Teil dadurch, dass die Sozialdemokraten das Ressentiment gegen alles, was nicht dänisch ist, mittlerweile erfolgreicher bedienen als die eigentlichen Rechtspopulisten.

Die "Elite" (noch vor fünfzehn Jahren eine Lieblingsparole der Bildungspolitik) ist nunmehr ein hässliches Phantom, das seine Gestalt wechseln kann, solange sie nur irgendwie als etwas diffus Höheres und Feindliches identifizierbar bleibt: Sie erscheint politisch als Erhöhung der Kraftstoffsteuern zugunsten der Energiewende, sie erscheint ökonomisch als das internationale Kapital, sie erscheint kulturell als die heimat- und gewissenlose Klasse, die aus der Globalisierung persönlichen Gewinn zieht. Sie kann auch als das liberale Bürgertum erscheinen, weil dessen Öffentlichkeit einen gewissen Grad von Bildung voraussetzt, zumindest in Gestalt der Fähigkeit, Argumente zu bilden und zu verstehen, also auf der Objektivität von Urteilen zu bestehen. Die Beschwörung eines Volksfeinds namens "Elite" ist dabei keineswegs ein Privileg von sogenannten Rechts- oder Linkspopulisten. Diesen Volksfeind nämlich kennt jeder demokratische Politiker und jeder Journalist, der schon einmal Formeln wie "die Menschen da draußen" oder die "hart arbeitenden Menschen" (Franz Müntefering, Martin Schulz, Wolfgang Thierse und viele andere) benutzte.

Das Bewusstsein, dass rechtschaffene Bürger nicht nur einen Anspruch auf staatliche Fürsorge besitzen, sondern auch bevorzugt behandelt werden müssen, teilen die Empörten außerdem nicht nur mit der Mehrheit der Bevölkerung, sondern auch mit großen Teilen der medialen Öffentlichkeit. Sie werden gestützt durch eine "Partizipationsmacht" (Jan Philipp Reemtsma) in Gestalt von Intellektuellen, die in Essays und Büchern beklagen, eine bürgerliche, liberale "Elite" habe darin versagt, die Sorgen der unteren Gesellschaftsschichten beizeiten ernst zu nehmen. Das "Volk der Wirklichkeit" hat insofern eine große Karriere durchlaufen. Das prominenteste Beispiel für einen solchen Intellektuellen ist in Frankreich gegenwärtig Edwy Plenel, der ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung Le Monde, der in seinem jüngst erschienenen Buch "La victoire des vaincus" ("Der Sieg der Besiegten", Paris, März 2018) zum Sturz des gewählten Königs Emmanuel Macron ermuntert, unter Berufung auf die großen Volksaufstände des 19. Jahrhunderts. Der Staat, darin sind sich die neuen Volksbewegungen einig, ist den falschen Leuten in die Hände gefallen. Aber abgesehen davon, dass die meisten deutschen Bürger mit den zivilen Errungenschaften der Bundesrepublik immer noch zufrieden sein dürften: Wann hätte es je einen Staat der richtigen Leute, wann hätte es je den guten Staat gegeben?

Es mag sein, dass sich viele Empörte über die Widersprüchlichkeit ihrer Proteste im Klaren sind - oder dass sie zumindest ahnen, dass deren Voraussetzungen so klar nicht sind. Ihre Wut wäre dann nicht nur Ausdruck ihrer Empörung, sondern auch ein Mittel, mögliche Zweifel in sich selbst auszulöschen. Die Demonstration wird dann zum eigentlichen Zweck der Demonstration. Denn zu erleben gibt es dort den "fleischlichen Körper" (Sebastian Dümling) einer Erfindung, nämlich eben jenes "Volks". Das gute Gewissen des empörten Bürgers, für das "Volk der Wirklichkeit" zu stehen, liefert dann nicht nur das Recht zum Zuschlagen, im übertragenen sowie im realen Sinn. Es ist auch umgekehrt: Das Zuschlagen birgt auch die Gewissheit, dass es dieses "Volk" tatsächlich gibt, mitsamt seinem Feind, der "Elite". So schließlich kommt das "Volk der Wirklichkeit" zu sich selbst, in einem Akt der Selbsterzeugung, als nicht nur leibhaftig, sondern auch militant gewordene Fiktion.

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Quelle:
SZ vom 12.06.2019
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