Süddeutsche Zeitung

Oscar-Verleihung 2015:Gala-Abend mit Alibi-Funktion

Lesezeit: 3 min

"Selma" wird nicht als bester Film ausgezeichnet, die Thematik des Dramas über den schwarzen Bürgerrechtler Martin Luther King prägt dennoch die 87. Oscar-Verleihung. Vom Vorwurf des Rassismus kann sich die Academy nicht befreien.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Es gehört zu den Kniffen eines talentierten Drehbuchautors, eine Erwartungshaltung aufzubauen und mit ihr zu spielen. Den Zuschauer zunächst auf eine richtige Fährte zu schicken, diese Spur danach als vollkommen absurd abzutun und sie schließlich dennoch für treffend zu erklären. Wenn das Erwartete am Ende doch unerwartet daherkommt und den Zuschauer ratlos und überrascht zurücklässt. Genau so war das am Ende der 87. Oscarverleihung, als dann doch der Favorit "Birdman" als Sieger in der Kategorie Bester Film verkündet wurde.

Diese Entscheidung ist nicht überraschend, sie ist durchaus gerechtfertigt, angesichts der Dramaturgie der Veranstaltung ist sie jedoch verblüffend. Die nämlich war darauf ausgelegt, dass "Selma" gewinnen würde - jenes Drama, das aufgrund seiner Nichtberücksichtigung in zahlreichen Kategorien (Beste Regie etwa und Bester Hauptdarsteller) für heftige Diskussionen über die Hautfarbe der Academy-Mitglieder (vor drei Jahren laut Los Angeles Times zu 94 Prozent weiß), ihr mittleres Alter (62 Jahre) und ihr Geschlecht (zu 77 Prozent männlich) gesorgt hatte. Ach ja: Alle 20 nominierten Schauspieler waren weiß.

Es fehlte die Pointe

Die Show im Dolby Theater war eine mehr als drei Stunden lange Betonung, wie wunderbar vielfältig die Academy of Motion Picture Arts and Sciences doch ist, wie sie über sich selbst lachen kann und wie gerührt sie sich bei emotionalen Auftritten gibt. Es war damit auch eine permanente Rechtfertigung und ein penetrantes Wehren gegen den offen ausgesprochen Vorwurf, rassistisch nominiert zu haben. Es fehlte nur die perfekte Pointe, der krachende Höhepunkt, der versöhnliche Umarmer, weshalb dann doch der Beigeschmack bleibt, dass am Ende zahlreicher Drehbücher derjenige der Mörder ist, der am häufigsten von sich behauptet, nicht der Mörder zu sein.

Der Academy kam entgegen, dass das National Action Network die angekündigten Proteste gegen die Oscars abgesagt hatte. Selma-Regisseurin Ava DuVernay hatte darum gebeten. "Wir wollen stattdessen den direkten Dialog mit der Academy suchen", sagte Organisator Najee Ali. Die Regisseurin, von den Academy-Mitgliedern bei der Nominierung übergangen, hatte sich als Versöhnerin präsentiert und womöglich unschöne Aktionen neben dem Roten Teppich verhindert.

"Ach, jetzt mögt ihr ihn auf einmal!"

Zu Beginn der Show gab Moderator Neil Patrick Harris den gewitzten Mahner, als er das Publikum begrüßte: "Tonight we honor Hollywood's best and whitest" - heute Abend ehren wir die Besten und Weißesten in Hollywood. Später beauftragte er die schwarze Schauspielerin Octavia Spencer mit der Bewachung eines Zaubertricks, danach ging er zu Selma-Hauptdarsteller David Oyelowo und reagierte auf das Klatschen der Menschen im Saal: "Ach, jetzt mögt ihr ihn auf einmal!" Später stellte Harris noch klar, dass Oyelowo "vollkommen verdientermaßen hier" sei.

Es ging dann schnell über zum Emotionalen: John Legend und Common präsentierten ihren nominierten Song zum Film, nicht nur Oyelowo hatte nach der beeindruckenden Vorstellung von "Glory" mit einem angedeuteten Marsch von Selma nach Montgomery Tränen in den Augen, sondern auch Chris Pine und andere Promis. Legend und Common bekamen nicht nur stehende Ovationen, sondern kurz darauf den Oscar in der Kategorie Bester Song.

Plumpe Versuche

Bei seiner Dankesrede sagte Legend: "Wir leben im Land mit den meisten Gefangenen - derzeit sitzen mehr schwarze Männer im Gefängnis als 1850 versklavt waren. Wenn die Leute mit unserem Lied marschieren, dann wollen wir ihnen sagen: 'Wir sind bei euch. Wir sehen euch. Wir lieben euch. Marschiert weiter.' Wir sagen, dass Selma jetzt passiert, weil das Ringen um Gerechtigkeit jetzt passiert." Wieder gab es stehende Ovationen, später sagte Common noch über die politischen Botschaften: "Es wäre töricht, eine derartige Plattform nicht zu nutzen."

Natürlich ist "Birdman" ein würdiger Gewinner, wie auch "Boyhood" ein würdiger Gewinner gewesen wäre - und auch "Selma". Nur wirkt die Dramaturgie der Veranstaltung nun nicht mehr wie das Hinarbeiten auf diesen versöhnenden Höhepunkt, sondern wie permanente plumpe Versuche eines doch nicht ganz so talentierten Drehbuchschreibers. Diese Academy mit ihren mehr als 6000 Mitgliedern besteht noch immer vor allem aus weißen, alten Männern - und es hat nicht den Anschein, als würde sich daran bald was ändern.

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