Süddeutsche Zeitung

Im Kino: "Coraline":Angriff auf das Auge

Lesezeit: 4 min

Vorsicht vor Augenräubern: "Coraline" ist ein verführerisches Familienhorrormärchen, fast so abgründig und angsteinflößend wie die Filme von David Lynch.

Martina Knoben

Dass dem Kinematographen etwas grundsätzlich Phantastisches innewohnt, müssen schon die Brüder Lumière geahnt haben, 1895, als sie eigentlich nur die Ankunft eines Zuges im Bahnhof La Ciotat dokumentieren wollten - und die Zuschauer ihres Films erschreckt zurückwichen vor der monströs heranbrausenden Lokomotive. Ein Schatten jenes Kino-Urerlebnisses ist in "Coraline" wieder zu spüren, wenn in der Eröffnungssequenz die Spitze einer langen Nähnadel auf das Auge des Zuschauers zielt.

Der Angriff auf das Auge ist der extremste stereoskopische Effekt in diesem digitalen 3-D-Film, der auf die üblichen Gimmicks ansonsten weitgehend verzichtet. Er ist auch mehr als ein Effekt - der Horror von "Coraline" thematisiert das Sehen selbst. Das ist nicht die schlechteste Idee für einen 3-D-Film, schließlich werben Verfechter der neu entdeckten Technik damit, sie habe das Kinoerlebnis ähnlich revolutioniert wie die Erfindung des Ton- oder Farbfilms. Dass die Augen der Sitz der Seele seien, postuliert "Coraline", und warnt vor Augenräubern, die mit schönen Illusionen locken. Für ein visuell so verführerisches Werk wie dieses ist das eine reichlich hintersinnige Botschaft.

Geheimtür zum Mädchentraum

Es ist die alte Geschichte von den Wünschen, die wahr werden, die in "Coraline" variiert wird. Seine tapfere Heldin heißt Coraline Jones (im Original gesprochen von Dakota Fanning), ist elf Jahre alt und gerade ins ländliche Oregon gezogen. Weil ihre Eltern keinen Augenblick für sie übrig haben, erkundet sie ihre triste Umgebung allein - und entdeckt eine Geheimtür in ihrer Wohnung, die zu einem langen, schmalen Gang führt, an dessen Ende eine andere Wohnung liegt, die der ihren fast völlig gleicht. Nur dass hier alles viel bunter, schöner und aufregender ist: Gegessen werden ausschließlich Lieblingsspeisen, Coralines Zimmer ist ein pastellfarbener Mädchentraum und der Garten ein psychedelischer Farbenrausch, der in 3-D besonders plastisch erblüht.

Auch Coralines Eltern befinden sich in der Wohnung, ihre "andere Mutter" und ihr "anderer Vater". Sie sind viel aufmerksamer und witziger als die echten Eltern, die von ihrer Arbeit und dem Umzug völlig vereinnahmt sind. Heimlich hatte sich Coraline deshalb eine neue Familie gewünscht - und die kriegt sie nun. Nur, dass die neuen Eltern Knöpfe anstelle der Augen haben, stört.

Dreidimensionaler als die Wirklichkeit

Geschrieben und inszeniert wurde "Coraline" von Henry Selick, der als Regisseur unter anderem Tim Burtons "The Nightmare Before Christmas" und Roald Dahls "James und der Riesenpfirsisch" auf die Leinwand gebracht hat. Wie diese Filme wurde auch "Coraline" im Stop-Motion-Verfahren mit Puppen realisiert, eine Tricktechnik, die fast so alt ist wie das Kino selbst, sich aber hervorragend mit der modernen 3-D-Technik versteht - beide Verfahren wirken ausgesprochen künstlich.

Dreidimensionaler als die Wirklichkeit sehen viele 3-D-Bilder aus, weshalb das Verfahren vor allem in Traum- und Albtraumsequenzen seine ästhetischen Möglichkeiten entfaltet. Der magische Garten etwa ist ein Feuerwerk von Ideen, ausgehend von realen Blumen wie Löwenmäulchen oder Tränenden Herzen, deren Eigenarten ins Phantastische überzeichnet werden. Und wie im Zirkus werden immer neue, immer kühnere Nummern präsentiert, die diverse Formen des Showbusiness zitieren. Coralines merkwürdige Nachbarn aus der realen Welt tauchen beispielsweise auf: die zwei alten englischen Schauspielerinnen und ihre Terrier, die im Keller leben, und der russische Zirkusdirektor aus dem Dachgeschoss. Die Diven legen einen Monty-Pythonesken Auftritt hin, der Botticellis "Geburt der Venus" ebenso zitiert wie Odysseus' Begegnung mit den Sirenen. Und der russische Zampano lässt seine Mäuse tanzen wie einst Busby Berkeley seine Girls .

Die Welt mit anderen Augen sehen

Die Show muss immer weitergehen, in dieser verführerischen, leuchtend bunten Welt - trotz aller Gruseligkeiten und Schrecken. Schon im Vorspann wird eine Puppe auseinandergeschnitten und wieder zusammengenäht, so gewaltsam, als wäre man mit einem Slasher-Streifen konfrontiert. Ihre Augen werden mit blitzender Schere abgetrennt und ihre Füllung herausgerissen; dann nähert sich bedrohlich die Nadel beim Durchstechen und Aufnähen der neuen Knopfaugen - der bereits erwähnte Effekt, der Coralines Schicksal vorwegnimmt. Coralines "andere Mutter" (Teri Hatcher) möchte nämlich, dass sie für immer in ihrer Welt bleibt. Ihre Bedingung: dass auch sie ihre Augen gegen Knöpfe tauscht. "Bald wirst du die Welt mit unseren Augen sehen."

Das geht weit über das hinaus, was kleinen Zuschauern gewöhnlich zugemutet wird in so genannten Familienfilmen. Die Vorlage zu diesem angsteinflößenden Werk hat der Brite Neil Gaiman geschrieben, Autor der legendären Sandman-Comicserie und Verfasser von Fantasy- und Kinderbüchern, in denen schon mal Wölfe aus den Wänden kriechen und die Herrschaft über das Haus übernehmen. Die Möglichkeit einer Katastrophe liegt bei diesem Autor direkt neben der Alltagsrealität. Wie im Märchen muss Coraline schließlich ihre Angst besiegen - wobei ihr Entsetzen allerdings nur zu berechtigt ist.

Henry Selick hat die literarische Vorlage etwas entschärft, die öde Provinz, in der Coralines Spukhaus steht, könnte allerdings auch einem David-Lynch-Film entstammen, so abgründig wirkt das Ganze. Selbst Coralines einziger Freund (den sie selbst nicht so nennen würde) ist ein reichlich merkwürdiger Junge, der bei ihrem ersten Treffen keine Augen zu haben scheint. Im Gesicht trägt er drei Kameraobjektive in einem Revolverkopf, wie er vor Erfindung des Zooms benutzt wurde: ein liebevoller Verweis auf ein handgemachtes, analoges Kino, das die Autoren von "Coraline" sichtlich verehren. Es gibt jede Menge film- und kunsthistorischer Anspielungen in diesem Kinderfilm, der nicht nur deshalb als bislang reifste der neuen 3-D-Produktionen erscheint. Am Ende geht es für Coraline darum, Wunsch und Wirklichkeit in Deckung zu bringen. Das ist sehr erwachsen - und auch eine Art stereoskopisches Verfahren.

CORALINE, USA 2009 - Regie, Buch, Produktionsdesign: Henry Selick. Kamera: Pete Kozachik. Sprecher: Dakota Fanning, Teri Hatcher, Jennifer Saunders, Dawn French, Keith David, John Hodgman, Robert Bailey Jr., Ian McShane. Universal, 101 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 12.08.2009
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