Süddeutsche Zeitung

Holocaust-Film "Lauf, Junge, lauf":Kind in Zeiten des Krieges

Lesezeit: 4 min

Yoram Fridman floh mit acht Jahren aus dem Warschauer Ghetto und schlug sich bis Kriegsende in den Wäldern durch. Der deutsche Oscar-Preisträger Pepe Danquart erzählt in "Lauf, Junge, lauf" akribisch die Geschichte des Überlebenden. Nun ist der Film in Polen angelaufen - und wird bislang gut aufgenommen.

Von Klaus Brill, Warschau

Große Abenteuerfilme sind Fiktion, meistens. Auch wenn ihr ganzer Reiz darin besteht, dass es so gewesen sein könnte. Die Imagination erschafft sich ihre zweite Realität. Beruht das Werk auf einer "wahren Begebenheit", dann verlangt schon die Umsetzung komplexer Sachverhalte und Prozesse in Dialoge und Spielszenen eine Verdichtung, die über die Details des wirklichen Geschehens mitleidlos hinwegmarschiert. Überdies nehmen sich die Drehbuchschreiber oft die Freiheit, Charaktere neu zu modellieren, neue Handlungsstränge einzuflechten und dramatisch aufzuputzen. Am Ende wird die Chose noch durch eine fiktive Romanze erotisch aufgeladen. Und dann, so hoffen sie, kommt das junge Publikum ins Kino.

Bei diesem Film ist das anders. "Alle Szenen habe ich genau so erlebt", sagte am Mittwoch in Warschau bei der Weltpremiere von "Lauf, Junge, lauf" des deutschen Oscar-Preisträgers Pepe Danquart der 79-jährige Yoram Fridman. "Nicht eins zu eins, aber zu 90 Prozent plus ist es genau so gewesen." Der Mann muss es wissen, denn es sind drei dramatische Jugendjahre seines Lebens, die der Berliner Regisseur und Produzent verfilmt hat.

Yoram Fridman wurde 1934 als Jude in einem Dorf bei Warschau geboren. Als Achtjähriger konnte er 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, aus dem Warschauer Ghetto fliehen und so der Gewalt der deutschen Besatzer entkommen. Bis zum Kriegsende 1945 schlug er sich in den umliegenden Wäldern durch. Er schlief in Erdlöchern, er watete durch Schlamm und Schnee, er hungerte und fror und litt unter der Einsamkeit. Immer wieder klopfte er bei Bauern an die Tür. Von manchen wurde er barsch abgewiesen oder gar hereingelegt, von anderen aber aufgenommen, liebevoll betreut und vor den deutschen Soldaten und SS-Offizieren versteckt.

Kein Kitschfilm à la Hollywood

Diese Erlebnisse verarbeitete der israelische Autor Uri Orlev zu einem Jugendbuch, das 2002 erschien und ein Weltbestseller wurde; die deutschsprachige Ausgabe ("Lauf, Junge, lauf") liegt derzeit in neunter Auflage vor. Orlev ist ebenfalls als Jude in Polen geboren, war ebenfalls im Warschauer Ghetto und wurde ebenfalls von polnischen Familien versteckt.

Den deutschen Filmemacher Pepe Danquart, der seinen Oscar 1994 für den besten Kurzfilm erhielt, hat dieser Tatsachenroman als "eine tief bewegende, historisch wahre Geschichte" geradezu elektrisiert. Er beeindruckte den Autor Orlev und Yoram Fridman mit seinem Charme und seinen bisherigen Werken so sehr, dass sie ihm gegen große Konkurrenz die Filmrechte übertrugen. "Es war Liebe auf den ersten Blick", sagt Fridman im Gespräch. Die Tatsache, dass Danquart ein Deutscher war, schlug nicht negativ aus, im Gegenteil. Das Schuldbewusstsein heutiger Deutscher bot Fridman nach eigenen Worten die Gewähr, dass das Werk kein Kitschfilm à la Hollywood werden würde.

Der ist es in der Tat nicht geworden, sondern eine fesselnde und bewegende Erzählung von 108 Minuten Länge ( der Trailer ist hier zu sehen). Keine einzige Minute ist überflüssig, wenngleich man das Ende mit dem glücklichen Ausgang als Erlösung empfindet: Der jüdische Junge verliert einen Arm, doch er überlebt. Man sieht ihn am Ende "in echt" als alten Mann mit Ehefrau, Kindern und Enkeln am Strand in Israel. Von der rechten Schulter baumelt ein leerer Hemdsärmel herab.

Pepe Danquart vermisst das Geschehen in zwei Dimensionen. Parallel zur äußeren Abfolge der kindlichen Heldenreise entfaltet sich ein innerer Identitätskonflikt, viel zu groß für einen kleinen Jungen. Um zu überleben, muss er sein Judentum verleugnen, das hat ihm der Vater in höchster Gefahr eingeschärft: "Du musst alles vergessen, aber nicht, dass du ein Jude bist."

So nimmt der Junge einen anderen Namen an. Eine einfühlsame katholische Bäuerin erkennt seine Not und übt mit ihm das Doppelleben ein. Bald sagt er "Gelobt sei Jesus Christus", wenn er an fremde Türen klopft, er betet zur Muttergottes und legt sich eine unverfängliche Erklärung für sein Vagabundieren zurecht.

Schon diese Szenen machen den Film für ein polnisches Publikum zum delikaten Sujet. Wieder kommt die große, sehr aktuelle Frage auf den Tisch, wie sich die Polen unter dem Terror der Nazi-Herrschaft zwischen 1939 und 1945 gegenüber den Juden verhalten haben. Dies war vor einem Jahr schon das Thema des Films "Pokłosie" (Nachlese) von Wladysław Pasikowski, der eine furiose, kontroverse Debatte auslöste. Nicht minder heftig wurde in Polen der im März im ZDF ausgestrahlte deutsche Film "Unsere Mütter, unsere Väter" aufgenommen, aber ganz anders. In diesem Streifen war, so die einhellige Meinung, das Verhältnis zwischen Polen und Juden einseitig verzerrt dargestellt - als ob es auch im polnischen Widerstand vor allem ekligen Antisemitismus gegeben habe. Wesentliche Fakten, so die Rettung vieler Juden durch katholische Polen unter Lebensgefahr, blieben ausgeblendet - und das von Deutschen, die doch das ganze Unheil angerichtet haben.

Dem Film "Lauf, Junge, lauf" wird solches nicht passieren, weil der Regisseur und sein Drehbuchautor Heinrich Hadding sich so akribisch an die wahre Geschichte des Yoram Fridman gehalten haben. Das geht so weit, dass die Polen polnisch, die Juden jiddisch und die Nazis deutsch reden - alles wird untertitelt. Prominente polnische und deutsche Schauspieler sind im Einsatz, darunter Zbigniew Zamachowski, Elisabeth Duda und Rainer Bock. Den Jungen spielt das Warschauer Zwillingspaar Andrzej und Kamil Tkacz mit einer schwer zu überbietenden Ausstrahlung an Authentizität.

Fürs Erste eine gute Aufnahme

Vorgeführt wird die Bandbreite menschlicher Härte und Hilfsbereitschaft gegenüber einem jüdischen Kind in Zeiten des Krieges. Es gab ihn, den Antisemitismus, wohl wahr. Im Film kommt er in wütenden Exklamationen einzelner Dorfbewohner zum Ausdruck, vor allem in der Gemeinheit eines Bauernpaares, das den armen Jurek auf der Landstraße aufliest, vermeintlich großherzig, dann jedoch im Pferdewagen bei der Gestapo abliefert. Es gibt Geld dafür. Für das Gegenbild stehen neben der Bäuerin mit dem Marienbild auch etliche weitere Frauen und Männer, die den Gejagten speisen und beherbergen, am Ende findet er dauerhaften Familienanschluss.

In Polen hat der Film, der an diesem Freitag in 140 Kinos anläuft und ab 17. April auch in Deutschland zu sehen ist, fürs Erste eine gute Aufnahme. Die Premiere fand im neuen Warschauer Museum für die Geschichte der polnischen Juden statt, in Gegenwart des wahren Helden Yoram Fridman, des Buchautors Uri Orlev und übrigens auch der Münchnerin Charlotte Knobloch, Inhaberin hoher Ämter in der internationalen jüdischen Gemeinschaft, die ebenfalls als Kind die NS-Zeit im Versteck auf dem Lande überlebte, in Franken. Eine Vorpremiere fand eigens für Schüler aus Warschau und Berlin statt.

Dass bei diesem Anlass auf der Bühne zwischen den drei Überlebenden Fridman, Orlev und Knobloch und den polnischen Schauspielern auch der Deutsche Danquart saß, fiel nicht mehr ins Gewicht. So wenig wie der Umstand, dass in dem Projekt "zu 80 Prozent deutsches Geld" steckt, Filmförderung inklusive, wie der Verleiher Alexander van Dülmen bemerkt. Das ganze Geheimnis ist vermutlich: Qualität kennt keine Nationalität.

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Quelle:
SZ vom 10.01.2014
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