Süddeutsche Zeitung

Grammys:Eine Frage des Stils

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Darf improvisierte Musik für Klassikpreise nominiert werden? Bei den Grammys gibt es heftigen Protest.

Von Andrian Kreye

Man könnte den Ärger bei den Grammys als einen den vielen Shitstorms abtun, die Preisverleihungen seit einigen Jahren begleiten. Eine ganze Reihe Musiker, Produzenten und Kritiker sind in Rage, weil zwei Männer dieses Jahr in den Kategorien der klassischen Musik nominiert wurden, die da ihrer Meinung nach nicht hingehören. Der eine ist der Pianist und Sänger Jon Batiste, dessen Stück "Movement 11'" als "Beste klassische Komposition" nominiert ist. Der andere ist der Geiger Curtis Stewart, dessen Album "Of Power" als "Bestes klassisches Solo" gewinnen könnte. Es gibt Posts, Mails, Briefe und Protest aus den Reihen der etablierten Klassik. Nun muss man einerseits sagen, dass Jon Batiste eigentlich Jazzmusiker war, sein Geld aber als Kapellmeister bei einer großen Talkshow verdient und mit dem Album "We Are" zum Popstar aufgestiegen ist. Curtis Stewart leitet dagegen die Kammermusikabteilung an der Juilliard School of Music, improvisiert auf dem nominierten Album allerdings nicht nur über Bach und Paganini, sondern vor allem über Stevie Wonder, Charlie Parker und Charles Mingus. Dabei setzte er auch allerlei elektronische Geräte ein und rezitiert Lyrik dazu.

Eines von Batistes Stücken entstand nach dem Polizeimord an George Floyd

Wenn man nun noch erwähnt, dass Batiste und Stewart beide Afroamerikaner sind und beide Alben von der "Black Lives Matter"-Bewegung inspiriert wurden, könnte man das auch als eine dieser unzähligen Debatten zu den Akten legen, bei denen sich Emanzipationsbewegungen und Establishment in den USA um Deutungshoheiten streiten, die für den Lauf der Dinge im Rest der Welt nicht allzu viel Bedeutung haben. Eines von Stewarts Stücken heißt auch noch "Stay Woke", und Batiste bezieht sich mit einigen seiner neuen Stücke auf die New Yorker Protestmärsche nach dem Polizeimord an George Floyd.

Und doch geht es um mehr als um amerikanische Gesellschaftskonflikte. Es geht noch einmal um die grundsätzliche Frage, ob musikalische Genres nur Ab- oder doch Ausgrenzungen sind. Immerhin waren die meisten Genres Erfindungen einer Musikindustrie, die mit dem Etikett "Race Music" den Rassismus früh in ihrem Erbgut verankerte. Viel zu viele Begriffe waren auch Schimpfworte (Punk und Funk ) oder Sexualisierungen (Jazz und Rock 'n' Roll). Legendär waren die Wutanfälle, die Miles Davis regelmäßig bekam, wenn jemand das "schmutzige Wort Jazz" benutzte. Er bezeichnete sein Werk immer als "Social Music" (Jon Batiste nannte sein drittes Album so).

Der Rassismus schwingt in den Protesten der Klassiker nur in den Untertönen mit. Sie argumentieren eher mit protestantischen Leistungskriterien. Wie könne man ein zwei Minuten langes Stück, das rasch dahinkomponiert wurde, mit dem Orchesterwerk von Leuten vergleichen, die Jahrzehnte darauf hingearbeitet haben? Wie kann man Stewarts Improvisationen mit den Höchstleistungen von Virtuosen auf eine Stufe stellen?

Weil es bei solchen Preisen nicht nur um Deutungshoheiten, sondern auch um Geld geht (Grammy-Gewinner bekommen mehr Jobs und können höhere Gagen verlangen), ist die Wut von Leuten, die um ihr Auskommen in der Anspruchswelt der interpretativen Klassik oder gar in der Nische der zeitgenössischen Musik kämpfen müssen, nur verständlich. Aber die Frage, ob improvisierte Musik keinen Platz in der Hochkultur hat, ist durchaus eine Debatte wert.

Die Antworten findet man in der Musik selbst. Jon Batiste gab vergangenen Samstag in der Carnegie Hall ein Solokonzert, bei dem niemand fragte, was das für Musik sei, die er da spielte. Leonard Bernstein ließ seine Orchester immer wieder mal improvisieren, weil das die Musik besser machte. Und legendär ist auch jener Abend, als Igor Strawinsky in den New Yorker Club Birdland kam, um sich Charlie Parker anzuhören. Der wusste sehr wohl, wer da am Tisch in der ersten Reihe saß, und gab sofort sein Bestes. "Koko" spielte er, ein halsbrecherisches Stück mit einem Tempo von dreihundert Beats pro Minute. Im zweiten Chorus dann flocht Parker ein paar Takte von Strawinskys "Feuervogel" ein. Der Literaturwissenschaftler Alfred Appel war damals dabei und erinnerte sich: "Strawinsky brüllte vor Vergnügen und schlug sein Glas auf den Tisch, wobei der Schnaps und die Eiswürfel auf die Leute hinter ihm geschleudert wurden, die ihre Hände hochwarfen oder sich duckten." Siebzig Jahre ist der Abend schon her. Da war diese Debatte eigentlich erledigt.

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