Süddeutsche Zeitung

Gerhard Richter und Vija Celmins in Hamburg:In der Grauzone

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Die Hamburger Kunsthalle zeigt Gerhard Richter zusammen mit Vija Celmins. Und die Schau "Double Vision" bringt die spröden Werke beider Künstler zum Sprechen. Nicht nur, weil sie eine Lieblingsfarbe teilen.

Von Till Briegleb

Gerhard Richter hat für das Verhältnis seiner Malerei zur Wirklichkeit mal einen schönen Begriff gefunden. "Teilweisigkeit" nannte er es, wie die Realität sich in sein künstlerisches Abbild mischt. Dieses Wort, das selbst nur in einem Bereich der Teilweisigkeit existiert, denn es steht nicht im Duden, ist aber trotzdem verständlich, stellt in seiner absichtlichen Unschärfe dennoch eine präzise Frage an die Kunst und das einzelne Bild, nämlich die nach der Bedeutung. Seit die Malerei in der Moderne zur Konzeptkunst wurde, die sich aus geschichtlichen und religiösen Vorbedingungen gelöst hat, wurde das Dargestellte für die Betrachtenden immer irritierender. Warum malen Malerinnen und Maler etwas Bestimmtes? Und was wollen sie damit sagen?

In der Ausstellung "Double Vision" in der Hamburger Kunsthalle, die den großen Gemeinsamkeiten in der Teilweisigkeit von Gerhard Richter und der in Riga geborenen amerikanischen Künstlerin Vija Celmins gewidmet ist, muss sich wirklich niemand schämen, solche Warum-Fragen zu stellen. Warum malen diese Kunststars aus der Generation der Kriegskinder heiße Herdplatten oder die Enden eines Vorhangs? Was bringt es den Betrachtern, sechs fast identische Bleistiftzeichnungen sich kreuzender Meereswellen von Vija Celmins anzusehen, oder bei Richter eine Serie hochgebogener Papiere? Und was finden die beiden eigentlich so bedeutend an der Farbe Grau, die beider Werk so massiv bestimmt hat, bei Celmins über lange Zeit als einzige?

Beide verarbeiten Kriegstrauma durch das Abmalen von Zeitungsbildern

Zunächst verblüfft es, die enorme formale Ähnlichkeit in den Motiven von Celmins und Richter von der Kuratorin Brigitte Kölle vorgeführt zu bekommen. Beide haben ihre traumatischen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg in den Sechzigern durch das Abmalen von schwarz-weißen Zeitungsbildern verarbeitet, die militärische Motive zeigen. Gerhard Richter folgte hier der methodischen Teilweisigkeit, indem er auf einem Bild wie "Schärzler" (1964) das Flugzeug unscharf malte, die Schrift aber klar lesbar. Celmins dagegen gab auf einem anderen Kontinent ihr "Deutsches Flugzeug" mit Hakenkreuz 1966 präzise wieder, ließ den Untergrund aber unbestimmt.

Angesichts solcher Verwandtschaften muss ausdrücklich dazugesagt werden, dass die beiden sich weder gekannt noch beeinflusst haben, weil es angesichts der Parallelität ihrer Motive und Bildinteressen kaum zu glauben ist. Nach der Akademie malten beide scheinbar banale Gegenstände in ihren Ateliers im altmeisterlichen Stil ab, Richter einen Küchenstuhl, Celmins eine Doppellampe. Später griffen beide auf Fotos beiläufiger Situationen zurück, die sie leicht unscharf, also realistisch in Teilweisigkeit, zum Ölbild machten. Celmins malte Blicke aus dem Auto auf den Freeway, Richter die Sicht auf ein besetztes Haus gegenüber seinem Kölner Atelier. Diese wichtigen Phasen in dem künstlerischen Werdegang beider, wo sie unsensationelle Ausschnitte aus dem Fluss der Zeit herausgelöst und monumentalisiert haben, finden in der Ausstellung leider nicht die adäquate Gewichtung. Im Fall von Richter lassen sich Beispiele in der seit März in der Neuen Nationalgalerie Berlin gezeigten Schau "100 Werke" mit Dauerleihgaben des Künstlers finden, die viele seiner unterschiedlichen Werkkomplexe versammelt.

Die Farbe Grau führte aber nur bei Richter in die Abstraktion

Weitere Erzeugung von Gleichzeitigkeit fand in den Siebzigern statt. Da wendeten sich beide intensiv dem Meer zu. Celmins in akkuraten Zeichnungen nach Fotos, Richter in großen Seestücken in Öl, die ihre Vorbilder bei Gustave Courbet finden. Nur während Richters intensive Beschäftigung mit der Farbe Grau ihn schließlich zur Abstraktion führte, zu aufgewühlten wie ruhig fließenden Pinselbewegungen in der Fläche, suchte Celmins die künstlerische Teilweisigkeit der Natur in der dreidimensionalen Verdoppelung. Zu den berühmtesten Arbeiten der in Europa immer mal wieder gezeigten Künstlerin (etwa auf der Documenta 14 in Kassel und Athen), die hier aber nie den großen Durchbruch erlebt hat, gehören exakt kopierte Steine.

Fundstücke von Strand- und Wüstenspaziergängen hat Vija Celmins ab 1977 in Bronze nachgießen lassen und dann so fein detailliert bemalt, dass es vollkommen unmöglich ist, den Klon zu erkennen. In den Nullerjahren hat sie diese Zwillingsgeburten auch an anderen Objekten durchgeführt. In der Ausstellung hängt eine Schultafel inklusive Kreidespuren von 2009, die dieser scheinbar fehlerlosen Zellteilung unterzogen wurde. Celmins vergrößerte aber auch ähnlich wie ihre Zeitgenossen aus der Pop Art Alltagsdinge zu Skulpturen. In der Ausstellung ist zwar nicht ihr berühmter "Kamm"-Gigant von 1970 zu sehen, aber dafür Radiergummi und Bleistift für Kunstriesen aus Holz und Acryl von 1967.

In dem konsequenten Bezug zur Gegenständlichkeit ist Vija Celmins natürlich weniger teilweisig geblieben als Richter, der alle denkbaren Spielarten des Wandbilds erkundet hat bis hin zum Monochromen und der grafischen Abstraktion. Aber beide verbindet ihr Misstrauen gegenüber zu offensichtlicher Bedeutung, zu klaren Narrativen. Und dieser innere Abstand zu lauten Kunstbewegungen erklärt auch teilweise die erstaunliche Synchronität in ihrer Suche nach gelasseneren Ausdrucksformen.

Es ging auch darum, allzu aufdringlichen Botschaften zu entkommen

In Gegenreaktionen zu prägenden Stilen ihrer Zeit, seien es die unterschiedlichen Spielarten eines abstrakte Expressionismus in den USA und in Europa, die Pop Art sowie symbolische und politische Kunsterfindungen, suchten beide immer wieder nach der ernsten Zurücknahme auf Formen der reinen Malerei - und fanden bei dieser Expedition zu sehr ähnlichen Wegmarken und Methoden. Auch die Leitfarbe Grau erfüllt in beiden Fällen die Funktion, der Gefahr zu aufdringlicher Botschaften zu entkommen.

Diese große Vorsicht führt dann dazu, dass dort, wo verständliche Bedeutung doch gewünscht wird, ihr besondere Aufmerksamkeit sicher ist. Das gilt für Richter bei seinen großen Zyklen zur Baader-Meinhof-Gruppe oder zum KZ Birkenau. Bei Vija Celmins zählen dazu Skulpturen wie ein kleines Haus von 1965, das grau bemalt ist mit albtraumhaften Szenen der Bedrohung, innen aber weich ausgelegt mit rotem Fuchsfell. Die Teilweisigkeit einer schrecklichen Wirklichkeit bekommt dann eine absichtliche Schärfe in der Kunst. Und sie zeigt als Teil einer Weltsicht von besonderer Weise, dass gute Kunst so komplex ist wie die Wirklichkeit selbst.

Kunsthalle Hamburg , bis 27. August 2023; Katalog: Verlag Walther König, 256 S., 34 Euro.

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