Süddeutsche Zeitung

Filmgeschichte:Pfannkuchen und Slapstick gegen das Elend der Welt

Lesezeit: 4 min

Vor 100 Jahren kam Charlie Chaplins "The Kid" ins Kino. Warum die Stummfilmkomödie alle Blockbuster der Gegenwart blass aussehen lässt.

Von David Steinitz

Vor hundert Jahren schlich durch die Lobby des Luxushotels Ritz in New York eine Dame in Richtung Ausgang, die man bei näherem Hinsehen als Charlie Chaplin in Frauenkleidern hätte erkennen können.

Chaplin, der größte Filmstar der Welt, hatte sich tagelang nicht aus seinem Zimmer getraut, weil in der Lobby gleich eine ganze Gruppe von Zustellern mit gerichtlichen Verfügungen auf ihn wartete. Anfang der Zwanzigerjahre hatte er, vorsichtig formuliert, ein paar juristische Baustellen. Dazu gehörten die Scheidungsklage seiner ersten Ehefrau Mildred sowie Vertragsstreitigkeiten mit dem Filmstudio First National.

Weil Chaplin, ein erfolgreicher Mann Anfang dreißig, aber nicht für immer in seinem Zimmer sitzen wollte, während draußen das glitzernde Nachtleben von Manhattan wartete, entschloss er sich eines Abends zu dem Trick mit der Verkleidung. Er schildert die Episode in seiner Autobiografie "Die Geschichte meines Lebens" ausführlich. Raus aus dem Hotel kam er unentdeckt. Aber am Ende des Abends habe er sich nicht mehr zurückgetraut - woraufhin er bei seinem Taxifahrer in der Bronx übernachten musste, der grinsend seine Hilfe anbot.

Die Arbeit, die Chaplin damals aus seiner persönlichen Krise erlöste, war sein erster Langfilm als Regisseur, Produzent und Hauptdarsteller: "The Kid", zu Deutsch "Der Vagabund und das Kind", kam am 21. Januar 1921 ins Kino. Der Film über ein Waisenkind, das von Chaplins Leinwand-Alter-Ego, dem Tramp, gefunden und aufgezogen wird, ist ein einmaliger Spagat zwischen Slapstick und Sozialdrama. Bis heute ist er stilprägend für das Genre der Tragikomödie, die zu den Königsdisziplinen des Kinos gehört.

Viel wichtiger aber noch für die Gegenwart: All das, was diesen Film zum Meisterwerk macht, zeigt auch gnadenlos auf, warum das Kino der Gegenwart so oft so viel schlechter ist als das Chaplin-Kino des Jahres 1921.

Damit das Studio seinen Film nicht beschlagnahmte, schmuggelte Chaplin ihn in einen anderen Bundesstaat

Schon zu Lebzeiten schimpfte Chaplin leidenschaftlich über Hollywood und den Hang der amerikanischen Filmindustrie, schlechte Geschichten hinter opulenten Kulissen zu verstecken. Kleopatra auf dem Nil, zwanzigtausend Statisten im Roten Meer? "Das alles", schrieb er in seiner Autobiografie, "ist nichts anderes als die Geschicklichkeit der für den Aufbau verpflichteten Firmen". Eine rein logistische Aufgabe, die den Regisseur zum "Feldmarschall" degradiere.

Das ist ein Trend, der sich heute noch um ein Vielfaches verstärkt hat. Auch bei vielen Superheldenschlachten, die zu Hollywoods wichtigster Einnahmequelle geworden sind, hat man das Gefühl, sie seien nicht von einer Regisseurin oder einem Regisseur, sondern von den Nerds in den Pixelfabriken hergestellt worden.

Chaplin steht für ein anderes Kino. Nicht weil er Effekte nicht gemocht hätte (in "The Kid" gibt es eine wunderbare Traumsequenz mit einem fliegenden Hund). Sondern weil er die Regeln des Kinos besser verstand und beherrschte als viele andere, die dazu gezwungen waren, ihre Unfähigkeit hinter pompösen Knalleffekten zu verstecken.

Er wusste, dass das Kino der Architektur viel näher ist als allen anderen Kunstformen, weil es innere Zustände durch äußere Formen sichtbar machen muss. Besonders galt das natürlich für einen Stummfilm wie "The Kid". Aber auch heute gehören jene Filmemacherinnen und Filmemacher zu den besten, die ihre Geschichte nicht über Dialoge, sondern in erster Linie durch die Bilder erzählen - was natürlich der steinigere Weg ist.

Das ist auch einer der Gründe, warum nicht nur Chaplin, sondern auch viele andere Slapstickkünstler wie Laurel und Hardy sich lange an Kurzfilme klammerten und den Sprung zur Langform scheuten. Die aufwendigen Choreografien des Slapsticks, der im Idealfall mit jedem Gag auch eine kleine Tragödie erzählt, fordern schon für ein paar Minuten Film unendlich viel Energie und Kraft von den Machern. Vielleicht brauchte Chaplin seine juristischen Probleme deshalb als finalen Schubser, um sich so sehr in die Arbeit flüchten zu wollen, dass auch ein längerer Film drin war.

Was er in "The Kid" anstellte, war die Grundlage seiner späteren Erfolge, von "Goldrausch" über "Lichter der Großstadt" und "Moderne Zeiten" bis zu "Der große Diktator". Er übertrug die Komik und die Melancholie, die sein Tramp als bereits etablierte Kunstfigur in perfekter Synthese ausstrahlte, auf die Handlungen seiner Spielfilme. Jeder Nebendarsteller und jede Kulisse folgt bei Chaplin dem Prinzip des traurigen Clowns, speist sich aus Drama und aus Komödie.

Die erbärmliche Dachkammer zum Beispiel, in der der Tramp das Kind großzieht, ist inspiriert von jener Absteige in einem Armenviertel Londons, in der Chaplins Mutter seinen Bruder und ihn zeitweise aufzog. Aber Chaplin sieht in so einer Kulisse nicht nur die Tristesse seiner Kindheit und den brutalen Würgegriff eines sozialen Milieus, das seine Einwohner kaum entkommen lässt, sondern auch das komische Potenzial.

Chaplin floh mit dem fertigen Film aus Kalifornien, um ihn heimlich in Salt Lake City fertig zu schneiden

Ein armer Strolch wie der Tramp hat natürlich keine von der Stiftung Warentest auf Schadstoffe geprüfte Säuglingserstausstattung daheim. Aber er kann aus einer Teekanne mit einem Saugaufsatz, die er mit einer Schnur an der Decke befestigt, trotzdem die lustigste Stillszene der Filmgeschichte zaubern - und zeigt mit diesem Witz zugleich die Armut, aber auch die Liebe seines Protagonisten zu seinem Findelkind.

"Ein Film mit einem Lächeln, und - vielleicht - einer Träne" steht im Vorspann. Klingt ein bisschen kitschig, ist aber doch genau so.

Dass er nach den Dreharbeiten etwas Besonderes in der Hand hatte, muss er trotz aller Zweifel, die ihn plagten, geahnt haben. Weil Chaplin mit seinem damaligen Studio noch in Rechtsschwierigkeiten steckte, schmuggelte er "vierhunderttausend Fuß Filmstreifen" heimlich aus Kalifornien heraus nach Salt Lake City in ein Hotel. Er wollte durch den Wechsel des Bundesstaates verhindern, dass der Film durch ein Gerichtsurteil konfisziert werden könnte. "Auf dem Bett, unter dem Bett, im Badezimmer" hing sein Werk im Hotel verteilt, während er es mit Helfern zu einem fertigen Werk zusammenschnitt. Keine ganz ungefährliche Aktion, denn die damaligen Zelluloidstreifen waren extrem leicht entflammbar.

Aber weder das Hotel noch Chaplin explodierten, und nach einigem juristischen Hin und Her konnte "The Kid" schließlich in New York Premiere feiern und wurde ein sensationeller Erfolg. Heute ist er bei den gängigen Streamingportalen erhältlich. Auch wenn ein hundert Jahre alter Schwarz-Weiß-Stummfilm als Abendprogramm vielleicht nicht das erste Bedürfnis ist, das man in diesen kalten und grauen Corona-Januar-Tagen verspürt, macht dieser Film immer noch sehr glücklich.

Allein die Szene, in der Chaplin misstrauisch die Pfannkuchenstapel auf den Tellern seines Ziehsohnes und auf seinem eigenen nachzählt, damit sich das freche Kind keinen Pancake-Vorteil verschafft, verleiht diesem Film eine Wärme, die kein Computereffekt jemals erschaffen wird.

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