Süddeutsche Zeitung

Pop 2020:Das sind die besten Alben des Jahres

Lesezeit: 4 min

Electro-Fanfaren, Afro-Swing, gebeizte Beats: Die SZ-Popkritiker haben sich entschieden, welche Musik in diesem Jahr die beste war.

Von den SZ-Popkritikern

Pop war in diesem Jahr einmal mehr vor allem: koreanisch. K-Pop - dieser irre Musik-Eklektizismus, der gerne mal in einem einzigen Song Pop, Rap, Rock, Folk, R 'n' B und EDM erstaunlich stimmig mischt - ist seit diesem Jahr börsennotiert. Big Hit Entertainment, das Label der Band BTS, sammelte auf dem Parkett in Seoul Milliarden ein. Außerdem stellt die Musik im Vorbeigehen quasi jeden Streaming-Rekord ein. Das Frauenquartett Blackpink hat sich neben BTS in der jüngeren Vergangenheit als Groß-Player etabliert und mit "The Album" 2020 ein Werk in die Welt entlassen, das die ganze Herrlichkeit des Genres enthält. Man höre stellvertretend etwa "Pretty Savage": tief schwingender Rap, Electro-Fanfaren, die sich direkt ins Lustzentrum des Hirns fräsen und dort Schabernack treiben, Akustikgitarren-Bridge, dick glasierter Pop und viel weibliche Selbstermächtigung. Jakob Biazza

Dank ihres Albums "Future Nostalgia" war die britisch-albanische Popsänge rin Dua Lipa im Jahr der Quarantänen und der geschlossenen Clubs die Queen der betanzten Wohnzimmer-Teppiche - manche nannten das prompt "Micro-Clubbing". Ihre Hits "Physical" und "Don't Start Now": genial aus Disco und Funk zusammenzitierter Party-Pop. Noch besser wurde es, als Dua Lipa im Sommer die amerikanische DJ und Produzentin Marea Stamper alias The Blessed Madonna beauftragte, ein Remix-Album zusammenzumischen: "Club Future Nostalgia". Darauf geben sich im Mashup- und Bootleg-Verfahren Madonna, Jamiroquai, harter Detroit-Techno und eben Dua Lipa die Hand. Was für eine Party! Jan Kedves

Die gefährlichen Straßen und riskanten Ecken, die Schauplätze für kulturelle Wahrhaftigkeit - in 30 Jahren Gangsta-Rap sind sie selbst zu solchen Ultra-Stereotypen geworden, dass man sich mit Kampfhundgejaul freut, wenn ab und zu eine Stimme auftaucht, die frische Lichter auf die Szene wirft. Pa Salieu, 22, zu Hause in den englischen West Midlands, aufgewachsen in Gambia, hat mit "Send Them To Coventry" ein abgedreht brillantes Mixtape-Album veröffentlicht, mit Irrsinn, Böser-Wolf-in-Turnschuhen-Flow, schwarzdüsterstem Afro-Swing und sogar ein paar Hymnen. Zum Fürchten und zum Liebhaben. Joachim Hentschel

Die immer noch nicht geklärte Frage ist ja, ob Haiyti die intellektuellste deutsche Gangsta-Rapperin ist oder die nervöseste Gangsta-Intellektuelle des Landes? Und was genau wäre eigentlich genau der Unterschied? Die Antwort auf die Frage, was das Schlaue an schlauem Gangsta-Rap ist, könnte jedenfalls in beiden Fällen womöglich gar nicht so unähnlich ausfallen. Und es könnte etwas mit der Antwort auf die Frage zu tun haben, wie tief und ungesichert interessante Kunst es wagen sollte, die Erfahrung der Gegenwart zwischen Euphorie, Beruhigung und Enthemmung auszuleuchten. Aber wie auch immer: "Influencer" ein Opus, Kaliber Magnum, zu nennen, geht in jedem Fall absolut in Ordnung. Jens-Christian Rabe

Die Pet Shop Boys haben ihr Album "Hotspot" in den Berliner Hansa Studios aufgenommen, auf den Spuren von David Bowie und Depeche Mode sozusagen. Es ist ein herrliches Berlin-Werk geworden. Im ersten Song "Will-O-The-Wisp" steigen sie an der Uhlandstraße in die U1, um mit Christopher Isherwood in Gedanken und Techno auf den Ohren vorzuglühen. Im letzten Song landen sie dann, weit im Osten der Stadt, bei einer Hochzeit im Berghain ("Wedding in Berlin"). Zwischendurch viel romantisch-balladeske Sternenguckerei zu perfekt perlenden Synthie-Melodien ("Only the Dark"). Bei der widerspruchsfreien Kombination von Party-Pop mit literarischer Tiefe macht dem britischen Duo immer noch niemand etwas vor. Jan Kedves

Natürlich gab es im Jahr 2020 große Alben (Fiona Apple, Run The Jewels, Phoebe Bridgers), natürlich gab es große "Live"-Momente (Nick Cave, Gorillaz), natürlich gab es verblüffend gute Werke von den Übergroßen (Bob Dylan, Paul McCartney). Aber am meisten gerührt hat dann doch das altbackenste Ereignis des Jahres: ein neues Album ausgerechnet von AC/DC. "Power Up". Mitten im Corona-Wahnsinn der Welt tauchen fünf Männer im Rentenalter auf, mit müden Knochen und Hörproblemen, spielen den gleichen alten Stiefel wie immer - und für einen Moment hat man die Gewissheit, die Welt wird sich weiterdrehen, diese Pandemie wird uns nicht kleinkriegen. Denn auch das kann Pop, auch das kann Rock: einen für Momente dem Schlammbad der Realität entheben. Dazu muss die Musik noch nicht mal neu sein. Und noch nicht mal besonders gut. Max Fellmann

Reizend überinformierten, melancholischen Powerpop lieferten die Glass Animals mit "Dreamland". Musik zur Zeit. Es wummst herrlich, und doch steht irgendwo immer ein Fuß auf der Bremse, weil man sich ja blöd vorkäme, bei allem was man so weiß über sich selbst und die Welt, wenn man sich einfach nur gut und fröhlich fühlte. Dann lieber ein bisschen von dieser Schwermut, für die man es im Leben bislang eigentlich zu leicht gehabt hat. Hach. Die entscheidende Zeile in "Heat Waves" lautet entsprechend: "I just wish that I could give you that / That look that's perfectly un-sad." - Ich wünschte, ich hätte für dich diesen perfekt untraurigen Blick. Das ist aber natürlich auch genau der Zauber dieser Musik, dieses elegisch-drängende Powerflüstern mit Kopfstimme über schwer schleppenden Beats und Synthie-Schwaden aller Art. Jens-Christian Rabe

Deutschrap hat jetzt schon ein bisschen zu lang ein Konformitätsproblem - vor allem in der erfolgreichsten, der Gangsta-Variante. Vor allem inhaltlich. Überall dasselbe. Immer Koks und Knarren, immer Scheine, Schlampen und Karren - immer Briketts ticken und neun Millimeter, immer lila, Brazilian Butt Lift und SLK. Haftbefehl ist da erst mal keine Ausnahme. "Das weisse Album" ist voll mit Kapitalismus-Hörigkeit und Übermensch-Gehabe. Einerseits. Andererseits ist da dieser beinahe kindliche, großäugige Schmerz, diese weißglühende Wut, der Freiheitsdrang, das Anschreien gegen Räume, die eng sind und immer enger werden: "Ich steh' mit Rücken an der Wand / Hand an mei'm Schwanz / Andere am Ballermann / Ganzer Körper angespannt." Und außerdem sind da die übersteuerten, wie mit starker Säure gebeizten Beats von Bazzazian, dem undeutschesten Hip-Hop-Produzenten Deutschlands. Nicht auszumalen, was Haftbefehl noch für grandiose Kunst produzieren wird, wenn er das mit dem Koks endlich mal bleiben lässt. Jakob Biazza

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