Süddeutsche Zeitung

Virtual-Reality-Theaterpremiere:Aus einem toten Haus

Lesezeit: 2 min

Verlorenes Königreich: Der posthum in Augsburg uraufgeführte Monolog "14 Vorhänge" von Einar Schleef ist eine Begehung und eine Beschwörung des Theaters durch die VR-Brille.

Von Christine Dössel

Als Erfahrungsneuland ist das Virtual-Reality-Theater überaus reizvoll, wer einmal damit anfängt, kann schnell Lust und Neugier entwickeln auf mehr. Am Staatstheater Augsburg experimentieren sie auf diesem Gebiet schon seit Längerem, das "Digitaltheater" wird dort sogar als fünfte Sparte aufgebaut. Corona war dafür ein Katalysator. Sieben VR-Produktionen in 360-Grad-Perspektive gibt es inzwischen auf dem Spielplan, die neueste: "14 Vorhänge", ein Kurzmonolog des vor zwanzig Jahren gestorbenen Chortheaterregisseurs, Autors und Schauspielers Einar Schleef, posthum uraufgeführt vom Augsburger Intendanten André Bücker.

Die Inszenierung ist auf eine VR-Brille aufgespielt, die man auf vr-theater@home nach Hause bestellen kann, so wie die anderen Angebote auch, etwa David Mamets "Oleanna" oder die Tanzproduktion "shifting_perspective". Die Brille kommt samt Bedienungsanleitung per Post, man muss sie nur einschalten, einen Kopfhörer einstöpseln und aufsetzen, kein Computeranschluss oder Wlan nötig. Vor den Augen erscheint eine Warnung: "Verwenden Sie VR nicht bei Stress oder unter Einfluss von Alkohol und Drogen." Den Cursor bedient man als User allein mit dem Blick. Es ist der immersive Aufbruch in eine faszinierende, die Sinne täuschende Welt. Um sie möglichst komplett zu erleben, dabei aber nicht blind in der Wohnung herumzutapsen, sitzt man am besten auf einem Drehstuhl. Es ist die 360-Grad-Raumerfahrung samt Ton, die das Gesehene so aufregend real und erlebnisnah macht, als sei man selbst in Raum und Echtzeit dabei, wenn auch seltsam körperlos.

In "14 Vorhänge" begleitet der Zuschauer, mit dem Okular wie eine Taucherbrille im Gesicht, den Schauspieler Klaus Müller bei einem Gang durch das baufällige Große Haus des Augsburger Theaters. Das ist schon seit 2016 geschlossen und wird seit 2019 umfänglich saniert (die Sanierungsarbeiten dauern mindestens noch bis 2026 an und sollen bis zu 321 Millionen Euro kosten; währenddessen ist das Theater in Interimsquartieren untergebracht). Ein riesiger Gebäudekomplex, labyrinthisch, entkernt, verwüstet. Alles liegt in Schutt und Trümmern, als habe eine Bombe eingeschlagen. Der schmerzhaft postapokalyptische Eindruck wird durch das triste Schwarz-Weiß des Films und die aktuelle Erfahrung der Pandemie noch verstärkt.

Klaus Müller durchstreift die Baustelle wie ein letzter Überlebender, ein Herr aus besseren Tagen, mit Hut, Mantel, Krawatte. Er gelangt in Räume, die mal Foyer, Werkstätten, Zuschauerraum waren, steigt Treppen hinauf und hinab, klopft oder stützt sich wehmütig an Mauern, begutachtet Risse und Schäden, blickt metertief hinunter in Schlünde - und wir mit ihm. Schauen rings um uns herum und zum Schnürboden hoch und von absturzgefährlichen Rändern hinab in das Theatergrab. Der Eindruck ist so fake-authentisch, dass einem manchmal fast schwindlig wird.

Das Ganze dauert nur eine halbe Stunde, erst in den letzten zehn Minuten kommt der Text. Da ist Klaus Müller dann auf der Bühne angelangt, die 25 Jahre lang seine Heimat war. Auch sie groß und tot, der eiserne Vorhang unten. Eine Krone liegt auf dem staubigen Boden, die setzt er sich auf und steht nun da wie Shakespeares Lear vor den Trümmern seines Reichs, erst in einem schwarzen Königs-, dann in einem Bademantel. Das passt gut, denn auch Schleefs "14 Vorhänge", ein nur eineinhalb Seiten kurzer Text, zugeeignet dem großen Schauspieler Bernhard Minetti, ist der Abgesang eines Königs, eines abgesetzten Theaterkönigs, auf sein einstiges Reich. Ein Schauspieler hält darin Rückblick auf seine ruhmreiche Zeit: "Wie das Publikum jedesmal nach mir rief, Kusshände bis zur obersten Galerie." Sein größter Triumph waren 14 Vorhänge: 14-mal Applaus an einem einzigen Abend. Den Stummelsätzen ist zu entnehmen, dass seine "plötzlich auftretenden Erkrankungen" dem Schauspieler das Genick brachen. Dass er entlassen wurde und seinen Schmerz auf der Straße hinausschrie. Hausverbot, Entwürdigung. "Ich war in mein Milieu verliebt."

Mehr ist das nicht - und doch so viel: einerseits ein Requiem aus einem toten Haus, andererseits die intensive Heraufbeschwörung von Theater in einer Zeit, in der es nicht mehr stattfinden darf. Eine Anrufung an Ort und Stelle. Und wir mittendrin.

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