Süddeutsche Zeitung

Kokain und Korruption:Gute Polizisten, böse Polizisten

Lesezeit: 6 min

Wie ein einziger Satz in einer scheinbar alltäglichen Gerichtsverhandlung dabei half, den größten Drogenskandal in der Geschichte Münchens aufzudecken.

Von Martin Bernstein

Es ist Mitte Februar 2020, als Susi Wimmer, Münchner Gerichtsreporterin der Süddeutschen Zeitung, in einen vermeintlichen Allerweltsprozess geht. Eigentlich ist es nur eine Verhandlung wegen Betäubungsmitteln. "Und dann sagt der Staatsanwalt plötzlich: Es wird gegen acht Polizisten ermittelt. Und das fand ich so irre, dass du in Mini-Verhandlungen reingehst - und dann wird da so ein Riesen-Ding draus." Das Riesen-Ding, von dem die langjährige SZ-Redakteurin erzählt, wird sich als einer der größten Polizeiskandale der vergangenen Jahre in ganz Deutschland erweisen: Ermittlungen gegen 37 Münchner Polizisten - fast ausschließlich Männer - wegen zahlreicher Straftaten im Zusammenhang mit der Münchner Kokain-Szene. Eine Szene, die trotz rund 10 000 pro Tag gezogener Lines irgendwo im Mittelfeld der europäischen Großstädte rangiert.

Man kann es einen Zufallstreffer nennen - oder das Gespür einer erfahrenen Gerichtsreporterin, die neugierig darauf ist, ob in einem scheinbar alltäglichen Termin eine spannende Geschichte stecken könnte. Bei der "Nacht der Autoren" am 15. Juli 2022 erzählt die Redakteurin rund 100 gefesselten, bisweilen auch fassungslosen Zuschauerinnen und Zuschauern im kleinen Saal des Münchner Volkstheaters, wie der Stein ins Rollen kam. "Als Gerichtsreporterin bekomme ich immer am Freitag die Anklageschriften für die Folgewoche. Und da war eine Anklage dabei, da ging es um Drogendelikte", erinnert sich Wimmer. "Die sind in der Regel jetzt nicht so spannend. Ich dachte: Kokain, Beruf Manager... schaust mal hin." Und die Verhandlung verlief zunächst unspektakulär. Angeklagt war ein Mann aus dem "Heart"-Club, der dort für die Veranstaltungen zuständig war. Er soll Kokain in großen Mengen erworben und weiterverkauft haben.

"Mensch, Susi, das ist ein Stoff für einen Krimi"

Als ein Ermittler als Zeuge auftritt, fällt dann jener Satz, der die Beobachterin elektrisiert. "In dem Augenblick war ich hellwach. Wie? Habe ich richtig gehört? Das kann doch wohl nicht sein. Aber es kam noch besser..." Denn als der Kronzeuge in den Zeugenstand tritt, sagt dieser: "Ach, die Polizisten, die haben sich an mir eine goldene Nase verdient." Und: "Es sind zehn oder zwanzig in München, mit denen ziehe ich durch die Nacht." Der Reporterin klingt das dann doch zu dick aufgetragen: "Jaja... jetzt übertreibt er aber, der Gute."

Die scheinbar alltägliche Verhandlung nimmt jedoch immer spektakulärere Wendungen, erzählt Wimmer im Volkstheater. Als nächstes sei als Zeuge ein Bankierssohn aufgetreten. Plötzlich habe der Staatsanwalt erklärt: "Es liegt ein Haftbefehl gegen Sie vor. Sie werden hier und heute festgenommen." Und dann seien ganz hinten im Gerichtssaal zwei Männer in Zivil aufgestanden, nach vorne gegangen und hätten den Zeugen festgenommen. "Und so begann die ganze Geschichte mit dem Kokain. Es folgten unzählige Verhandlungen gegen die Heart-Club-Betreiber, mittlerweile auch gegen Polizisten, und irgendwann sagt die Kollegin Katja Schnitzler aus unserem Online-Team zu mir: 'Mensch, Susi, das ist ein Stoff für einen Krimi'."

Diesen Krimi hat Katja Schnitzler zusammen mit Susi Wimmer aufgeschrieben, eine Kollegin hat die drehbuchreife Geschichte illustriert, im Internet wurde ein sogenanntes "Storytelling" draus, ein längerer Online-Text, der neben seinen Inhalten und akribisch recherchierten Hintergründen dem Leser durch seine besondere visuelle Gestaltung zusätzliche Anreize bietet. Bei der "Nacht der Autoren" waren Auszüge aus diesem Text noch einmal zu hören - begleitet von den Illustrationen im Stil einer Graphic Novel.

Die Drogentour zu Münchens Schattenseiten führt auf Clubtoiletten, zu Polizisten und - natürlich - auf die Wiesn

Um zehn Uhr vormittags kracht Stefan H. mit seinem Auto in ein Garagentor in der Müllerstraße. Der 8. April 2018 ist ein Sonntag, und Stefan H. kommt von der Arbeit, sozusagen. Als die Polizisten am Unfallort eintreffen, reagiert der schlaksige Mann am Lenkrad nicht, sein Kopf lehnt am Seitenfenster. Die Polizisten klopfen laut an die Scheibe, öffnen die Tür. (...) Stefan H. hat zu viele Drogen im Auto, als dass ihm jemand glauben würde, er wolle alles selbst konsumieren. (...) In vielen Verhören, aber auch in Gerichtsverhandlungen deckt Stefan H. einen Kokain-Skandal in München auf, mit Details wie aus einem überzeichneten Graphic-Novel-Krimi. Die Drogentour zu Münchens Schattenseiten führt auf siffige Clubtoiletten, wo Geldscheine aus Kabinen gereicht werden. Zu Polizisten, die Stammkunden beim Dealer und im Dienst berauscht sind, bis sie zu Hause Besuch vom Spezialeinsatzkommando bekommen. Und - natürlich - auf die Wiesn, das Fest des globalen Rausches.

So beginnt der Text. Dann schildert die Reporterin, worüber sie seit jener Verhandlung im Februar 2020 wieder und wieder berichtet: welche Rolle Münchner Polizisten in diesem bislang größten Drogenskandal in der bayerischen Landeshauptstadt spielen.

Als Drogenfahnder Thomas B. im Juni wieder einmal mit Stefan H. im Verhörraum sitzt, lässt der die nächste Bombe hochgehen: "Ihr steckt doch da eh alle mit drin", sagt er. Und dass er gemeinsam mit Polizisten durch die Nacht gezogen sei. (...) Gekauft hätten sie das Kokain bei ihm, und das nicht nur einmal: Die Polizisten seien Stammkunden gewesen, Rabatt inklusive. (...) Stefan H. hatte sich wohl ausgemalt, dass wie im Film Polizisten andere Polizisten decken. Und dass das Verfahren gegen ihn eingestellt wird, damit der Schmutz nicht ans Licht kommt. Stattdessen übernimmt das Bayerische Landeskriminalamt die internen Ermittlungen, unter größerer Geheimhaltung als sonst. (...) Nach den Vorermittlungen konzentriert sich die "Soko Nightlife" des LKA auf 37 Beamte vor allem in München, die irgendwie im Drogenskandal mit drinhängen. Bei manchen lässt sich nichts nachweisen, andere Verfahren wurden bereits gegen eine Geldauflage eingestellt, bei anderen wird nun Anklage erhoben.

Der Staatsanwalt sagt: Es seien nur 37 schwarze Schafe, von 7000 Polizisten in München. Die seien im Übrigen stinksauer, weil der Ruf aller Polizisten leide. (...) Aber drei, vier Leute seien dabei mit erschreckend hoher krimineller Energie. Da frage er sich schon, wie die bei der Polizei so lange damit durchgekommen sind. (...) Im September 2020 ist das LKA so weit, dass es die Wohnungen der verdächtigen Polizisten gleichzeitig durchsuchen lässt. Das Großaufgebot des SEK erfährt erst am Morgen kurz vor dem Einsatz, gegen wen der gerichtet ist: gegen Kollegen. Es wird ein langer Tag. 170 Ermittler durchsuchen 30 Wohnungen und sieben Dienststellen in und um München, in Augsburg, Dachau, Wolfratshausen, Ebersberg und an der Hochschule der Polizei in Fürstenfeldbruck. Sie stellen Mobiltelefone und andere Datenträger sicher, werten danach wochen- und monatelang Millionen Chatnachrichten, Bilder und Zehntausende Videos aus.

"Wer braucht schon Netflix, wenn er Nightlife hat"

Bemerkenswert ist das für die Gerichtsreporterin, die auch das Innenleben der Münchner Polizei aus dem Effeff kennt: Die ganzen Ermittlungen fanden tatsächlich nur im digitalen Raum statt: "Die waren bei den Durchsuchungen hauptsächlich auf die Mobiltelefone und die Laptops aus." In Whatsapp-Chatgruppen verschickten Polizisten Fotos von Lines auf dem Dienstausweis, von Nasenbluten und Koksen. Chatverläufe, bei denen die Reporterin mehr als einmal denkt: "Hilfe, wo bin ich hier hingeraten. Es war echt haarsträubend!" Oder, wie der Staatsanwalt in einem seiner Plädoyers sagt: "Wer braucht schon Netflix, wenn er Nightlife hat." Die Ermittlungen konzentrierten sich dann auf drei Dienststellen - auf Giesing, Neuhausen und die Altstadtwache. Ein Giesinger Polizist war auch bei einer besonders bizarren Szene dabei, die Susi Wimmer schildert.

Der Dealer, der drei Autos besaß, will mit seiner A-Klasse losfahren, und das Auto springt nicht an. Und dann ruft er die Polizei an, also seine Spezl, und bittet um Starthilfe. Dann kommen drei Polizisten in die Schwabinger Tiefgarage und geben dem Dealer Starthilfe. Und als Dank legt er Lines aus und sagt: "Bitte!" ...und zwar auf dem Dienstausweis eines Kollegen. Und dann erzählt der Dealer in der Verhandlung: "Da war der Kleine dabei und der kam kaum hoch, weil der Dienstausweis oben auf dem Autodach lag, und der hatte Mühe, dass er mit seiner Nase an die Koks-Line kommt." Und als dann gegen diesen Polizisten, der mittlerweile auch verurteilt ist, verhandelt wurde, war dem das völlig egal mit dem Koks. Der hat nur immer gesagt: "Ich bin nicht klein, ich bin nicht klein. Ich bin 1 Meter 83!"

Erschreckend finden die Reporterin und ihre Zuhörer die bisweilen brutale Sprache in den Chats. Susi Wimmer hat die Nachrichten, die in den Prozessen verlesen werden, dokumentiert. Da erzählt einer von "Kollegen, die keine Eier" hätten. Aber wenn draußen einer anfange zu beleidigen, "dann muss er fliegen". Oder: "Bei uns kommt er aus der Zelle raus und schaut aus wie nach einem Zwölf-Runden-Boxkampf." Der andere pflichtet dem Freund bei: "Rechtfertigen kannst du alles." Dazu gibt es Fotos von einem jungen Mann, dessen Gesicht blutig und verschwollen ist. "Ja, so gehört es sich", schreibt einer.

Die nächsten Verhandlungen stehen schon an

Bei den betroffenen Beamten, insbesondere einigen aus der Altstadtwache, der Polizeiinspektion 11, stoßen die Ermittler in den Chats auf eine ganze Liste mutmaßlicher Straftaten: Beleidigung, Bestechlichkeit, Hitlergruß im Biergarten, falsche uneidliche Aussage, gefährliche Körperverletzung, Körperverletzung im Amt, Freiheitsberaubung, sexuelle Belästigung, unterlassene Hilfeleistung, Verletzung des Dienstgeheimnisses...

Ja, schwarze Schafe gebe es, heißt es bei der Polizei, fast unvermeidlich sei das, man bilde schließlich einen Querschnitt der Gesellschaft ab. Trifft das zu, dann kann das für Journalisten und Öffentlichkeit nur heißen: Auch der Polizei und anderen Sicherheitsorganen muss man sehr genau auf die Finger schauen. Nicht als Generalverdacht - sondern weil dort passiert, was sonst eben auch in der Gesellschaft passiert. Susi Wimmer wird das weiterhin tun. Die nächsten Verhandlungen stehen an: gegen einen Polizisten wegen Drogendelikten und gegen zwei Beamte der Altstadtwache, die Unschuldige verfolgt haben sollen. Und dann gibt es auch noch Berufungsverhandlungen. Journalistischer Alltag eigentlich. Susi Wimmer wird natürlich auf der Pressebank sitzen. Vielleicht versteckt sich hinter den Allerweltsterminen ja die nächste große Geschichte.

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