Süddeutsche Zeitung

Pandemie:Was die Corona-Maßnahmen bringen

Lesezeit: 2 min

Von Maske bis Lockdown: Fast alle Interventionen helfen bei der Eindämmung der Pandemie. Doch genau beziffern lässt sich ihr Effekt noch immer nicht, wie eine neue Auswertung zeigt. Eine Tragödie nennen Forscher den Mangel an Daten.

Von Berit Uhlmann

Nun wird in Deutschland wieder heftig gerungen, welche Corona-Regelungen und Einschränkungen man den Menschen zumuten kann. Und erneut melden sich jene zu Wort, die grundsätzlich an diesen Maßnahmen zweifeln, die ins Feld führen, dass sie wissenschaftlich nicht gut belegt seien oder gar, dass ihre Wirkungslosigkeit längst nachgewiesen sei. Zuletzt hatte FDP-Chef Christian Lindner gesagt, dass Maßnahmen wie Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen "nach wissenschaftlichen Untersuchungen keine Wirksamkeit haben". Er stellte später klar, dass es ihm eher um die Verhältnismäßigkeit der Einschränkungen gegangen sei, doch die Aussage ist in der Welt und mit ihr die Verwunderung: Stimmt das denn?

Gerade ist im Fachjournal British Medical Journal ein Überblicksartikel erschienen, der Studien zur Effektivität verschiedener Public-Health-Maßnahmen zusammenfasst. Liest man ihn als Antwort auf den Streit, kann man festhalten, dass sich der Effekt einzelner Interventionen kaum präzise angeben lässt. Doch die Aussage zur Wirkungslosigkeit der weltweit praktizierten Maßnahmen lässt sich anhand dieser Arbeit nicht halten. Im Gegenteil.

Die Wissenschaftler um Stella Talic von der Monash University in Melbourne haben insgesamt 72 Studien zu den gängigen Corona-Maßnahmen ausgewertet. In der Summe deuten sie darauf hin, dass die Interventionen durchaus einen Effekt haben. So zeigen mehrere Arbeiten übereinstimmend, dass Abstandhalten etwa in Schulen Übertragungen verhindert. Alle Daten zusammengenommen, könnte die räumliche Distanz die Inzidenz um etwa 25 Prozent senken, schreiben die Forscher. Auch Studien zu Masken zeigten gleichermaßen einen positiven Effekt. Die Autoren gehen davon aus, dass die Gesichtsbedeckung die Infektionszahlen um etwa 50 Prozent verringern kann. Allerdings gab es in dieser Auswertung nur eine einzige Studie nach dem Goldstandard der Forschung: Eine Vergleichsstudie, in der die Probanden nach dem Zufallsprinzip zum Tragen oder Weglassen von Masken aufgefordert worden, ergab, dass der Mund-Nasen-Schutz die Inzidenz nur um 18 Prozent sinken lässt. Das Ergebnis war allerdings mit statistischen Unsicherheiten behaftet.

Der Effekt anderer Maßnahmen lässt sich noch weniger klar beziffern, weil die wenigen Studien jeweils unterschiedliche Größen betrachteten. Doch egal, ob Inzidenz, Sterblichkeit, der R-Wert oder eine andere Maßzahl ausgewertet wurde, die Wirkung war fast ausschließlich positiv.

So konnten Isolation, Quarantäne, die Schließung von Geschäften und Dienstleistern sowie Lockdowns das Pandemiegeschehen in gewissem Maße eindämmen. Auch Schulschließungen zeigten mehrfach eine Wirkung; lediglich eine Studie aus Japan konnte keinen Effekt nachweisen. Zu Grenzschließungen, dem Screening von Symptomen an Flughäfen und Grenzübergängen sowie der Lüftung von Gebäuden gab es nicht genug Daten.

Eine Reihe der ausgewerteten Studien befasste sich nicht mit Einzelmaßnahmen, sondern ihrer Wirkung als Paket. Solche Maßnahmenbündel könnten Übertragungen um 25 bis mehr als 75 Prozent reduzieren, heißt es in der aktuellen Arbeit.

Nur vier Prozent der Forschungsgelder sind in die Untersuchung der nicht pharmazeutischen Maßnahmen geflossen

Baptiste Leurent, Statistiker der London School of Hygiene and Tropical Medicine, bezeichnete die Studie als "gut gemacht" und "die wahrscheinlich die beste Evidenz für die Wirksamkeit der Public-Health-Maßnahmen bisher".

Nur ist das Beste in diesem Fall nicht unbedingt sehr gut. Die meisten der eingeflossenen Untersuchungen sind nicht sehr aussagekräftige Beobachtungsstudien. Meist lassen sich die Effekte der einzelnen Maßnahmen nicht gut voneinander trennen, da häufig mehrere von ihnen gleichzeitig in Kraft waren. Hinzu kommt die ganz unterschiedliche Ausgestaltung der einzelnen Interventionen. Was an einem Ort unter "Maskenpflicht" oder "Lockdown" läuft, kann anderswo ganz anders aussehen. Die Erkenntnisse lassen sich deshalb schlecht verallgemeinern.

Vor allem aber gab es schlicht nicht genug Studien. Wenn man bedenkt, wie wichtig die Alltagsmaßnahmen für die Pandemiebekämpfung sind und welche Kontroversen bis heute um sie geführt werden, sei dieser Mangel eine Tragödie, schreiben mehrere Forscher in einem begleitenden Kommentar. Gerade einmal vier Prozent der weltweiten Forschungsförderung seien in die Untersuchung der nicht pharmazeutischen Maßnahmen geflossen. Warum so wenig? Vermutlich seien rechtliche und ethische Erwägungen ein Grund, heißt es, aber auch mangelnde politische Unterstützung.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5467575
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.