Süddeutsche Zeitung

Nobelpreis in Medizin:Mit Vollgas gegen Krebs

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Von Kathrin Zinkant

Wer mit angezogener Handbremse versucht, sein Auto vom Fleck zu bewegen, erhält einen recht anschaulichen Einblick in die Gesetze der Physik. Was nur wenige wissen ist, dass die angezogene Bremse auch einen der bedeutendsten Fortschritte auf dem Gebiet der Krebsmedizin beschreibt. Auch die menschliche Immunabwehr hat nämlich Bremsen. Und bei manchen Krankheiten muss man sie erst lösen, bevor der eigene Körper loslegen und kämpfen kann - zum Beispiel gegen Krebs.

Es gab selten einen Nobelpreis, der sich so schön erklären ließ wie die diesjährige Auszeichnung für Medizin. Der Japaner Tasuku Honjo von der Universität in Kyoto und der Amerikaner James "Jim" P. Allison von der Universität in Houston, Texas, erhalten die Ehrung dafür, die grundlegenden Prinzipien des immunologischen Bremssystems entdeckt und für eine neue Generation von hochwirksamen Krebstherapien genutzt zu haben. Den zwei Immunologen ist es zu verdanken, dass viele, wenn auch nicht alle Patienten, die bis vor wenigen Jahren nur sehr geringe Chancen aufs Überleben hatten, mithilfe neu entwickelter Antikörper heute deutlich länger leben oder sogar vom Krebs befreit werden können.

Nach den Nobelpreisen der vergangenen Jahre, die grundlegenden physiologischen Mechanismen des Körpers gewidmet waren - wie zum Beispiel den biologischen Uhren von Zellen oder der räumlichen Orientierung des Gehirns - , ist der diesjährige Preis sehr klar medizinisch. Er zeigt jedoch auch, welche Bedeutung die Grundlagenforschung für Fortschritte in der Behandlung schwerer Krankheiten hat, denn beide Forscher befassen sich in ihrer Arbeit eigentlich mit hochspeziellen molekularen Details des menschlichen Immunsystems.

Honjo gilt unter Experten dabei sogar als stiller verträumter Nerd, der in einer recht spezialisierten Welt der Zell-Zell-Interaktionen lebt und viele seiner großen Entdeckungen dabei eher zufällig gemacht hat. Er war bereits 1992 auf ein Oberflächeneiweiß von Zellen des Abwehrsystems gestoßen, dessen Funktion zunächst rätselhaft erschien. Wie der Immunologe jedoch durch eine konsequente Reihe von Experimenten zeigen konnte, übt das Eiweiß mit dem Kürzel PD-1 eine wichtige Schutzfunktion aus: Es hält eine besonderen Klasse Immunzellen - die sogenannten T-Zellen - davon ab, irrtümlich den eigenen Körper anzugreifen. Im Englischen bezeichnen Fachleute solche molekularen Bremsen im Immunsystem heute als "checkpoint", als Kontrollpunkt.

Allison hatte ursprünglich gar nicht vor, eine Therapie gegen Krebs zu finden

Wenige Jahre später stieß James Allison auf eine zweite solche Bremse. Der heute 70-jährige Biochemiker war mit seiner Arbeit dabei gar nicht darauf aus, Krebs behandeln zu können, wie er selbst sagt. Erst als Assistenzprofessor am MD Anderson Cancer Center in Houston ließ sich der Texaner von einer Kollegin dazu überreden, besondere Oberflächenstrukturen von T-Zellen zu erforschen. Und so kam Allison zu einem damals viel beachteten Oberflächeneiweiß mit dem kryptischen Kürzel CTLA-4.

Auch von diesem Protein wusste man damals nicht, was es genau tat, geschweige denn, ob man es für eine Therapie nutzen konnte. Doch Allison folgte einem persönlichen Prinzip: "Ich tat, was meiner Ansicht nach jeder Grundlagenforscher tun sollte: Bei Gelegenheit innehalten und über die Implikationen der eigenen fundamentalen Erkenntnisse für die Therapie am Menschen nachdenken". So beschrieb er es vor drei Jahren im Fachblatt Cell. Und während andere Immunologen noch über die Rolle des geheimnisvollen Eiweißes für Autoimmunkrankheiten nachdachten, kam der Forscher auf eine entscheidende Idee: Was würde passieren, wenn man die Bremse CTLA-4 in krebskranken Versuchstieren aus dem Verkehr zieht - wenn man das Eiweiß also blockiert, den Fuß von der Immunbremse nimmt? Würde der Körper den Krebs eigenständig bekämpfen?

Allison blockierte das Eiweiß mit einem sogenannten Antikörper in Mäusen, die Hautkrebs hatten. Es war nur ein Tierversuch, doch mit derart spektakulären Ergebnissen, dass Allison sie selbst zuerst nicht glauben wollte. "Es war zu schön um wahr zu sein", erinnert sich der Biochemiker. Weitere Experimente bestätigten jedoch, was Allison vermutet hatte. Das Immunsystem der Tiere wurde entfesselt und stürzte sich auf die Krebszellen. Die Tumore schmolzen regelrecht dahin, und das auch bei ganz unterschiedlichen der mehr als 200 bekannten Krebsarten. Und auch im Fall von PD-1 konnte Honjo zeigen, dass die Blockade der Bremse zu einer wirksamen Immunantwort des Körpers gegen den Krebs führte.

Es war mehr als ein Erfolg: Honjo und Allison hatten mit ihren Erkenntnissen nicht nur zwei Rätsel um Oberflächenmoleküle auf Zellen geknackt, sie hatten ein 120 Jahre altes Rätsel der Krebsmedizin gelöst. So lange nämlich ist Medizinern schon bekannt, dass die körpereigene Abwehr Krebs eigentlich als Krankheit erkennen und bekämpfen kann, ganz ähnlich, wie sie auch Krankheitserreger wie Viren auszumachen und zu beseitigen vermag. Doch bei Patienten, deren Krebs weiter wächst und streut, scheint das Immunsystem entweder zu schwach oder überhaupt nicht auf den Tumor zu reagieren. Seit den 1980er Jahren versuchten Mediziner deshalb verstärkt, Impfungen gegen bösartiges Gewebe zu entwickeln.

"Wir beschäftigen uns seit Jahrzehnten damit, das Immunsystem des Körpers gegen Krebszellen zu aktivieren", sagt Ulrich Keilholz vom Krebszentrum des Universitätsklinikums Charité in Berlin. Die Idee war, den Körper individuell auf den Krebs und seine besonderen Eigenschaften abzurichten, damit das Immunsystem den Kampf aus eigener Kraft aufnehmen und auch gewinnen kann. Als Alternative zu den hochtoxischen Standardtherapien der Krebsmedizin erschien der Ansatz zunächst verheißungsvoll. "Funktioniert hat er allerdings nicht", sagt Keilholz.

Erst die Erkenntnisse von Honjo und Allison konnten erklären, warum Impfungen gegen Krebs nicht funktionieren. Krebszellen halten die sonst sehr effektive Immunabwehr des menschlichen Körpers über die Checkpoints in Schach. Und tatsächlich reicht es, diese Bremsen zu lösen, um den Sturm auf den Tumor zu ermöglichen. Eine Impfung ist nicht nötig.

Zahlreiche klinische Studien haben inzwischen die Wirksamkeit der Antikörper belegt, die zur Blockade der Bremsen entwickelt wurden, mehrere Präparate sind mittlerweile auf dem Markt - und es könnten noch weitere dazu kommen, denn auch das ist eine Erkenntnis der Checkpoint-Forschung: Das Immunsystem verfügt über verschiedene Bremsen, am besten ist es, mehrere auf einmal zu lösen. Weltweit sind Wissenschaftler inzwischen daran beteiligt, die neuen Therapien möglichst schlagkräftig einzusetzen. Das Konzept allerdings geht klar auf Honjo und Allison zurück, betont Keilholz. Therapien mit Checkpoint-Inhibitoren haben die Krebsmedizin "komplett umgekrempelt", wie der Onkologe sagt. Ein Erfolg, der nach Jahrzehnten der Dominanz von Chemotherapie, Operationen und Bestrahlung kaum noch greifbar erschien.

Der 76-jährige Honjo will sich trotz Nobelpreis noch lange nicht zur Ruhe setzen

Der Nobelpreis ist deshalb sicher ein Moment der Genugtuung für beide Laureaten, die den Weg vom Labor zum Patienten gegen viele Widerstände gemeistert haben, mithilfe zahlloser Kollegen auch in Deutschland, wie Honjo einmal hervorhob, aber auch durch die Unterstützung risikofreudiger Investoren und mutiger Ärzte. Der 76-jährige Honjo kündigte an, sich nach dieser Auszeichnung trotz seines Alters nicht zur Ruhe setzen zu wollen, ein paar Jahre möchte der Immunologe noch weiter forschen - um dann vielleicht Golfprofi zu werden.

Im Fall von Allison allerdings ist der Preis wohl durchaus auch eine Abrechnung mit der Krankheit selbst: Schon als 12-Jähriger verlor der Texaner seine Mutter an Krebs, zwei Onkel starben an ihren Tumorleiden, ebenso einer von zwei Brüdern, die an Krebs erkrankten. Auch bei ihm selbst wurden schon entartete Zellen im Körper gefunden, zum Glück jedoch frühzeitig, eine Operation konnte den Forscher retten. Seine Familie bekommt er durch den Erfolg seiner Forschung zwar nicht mehr zurück. Doch wie Allison vor einiger Zeit in einem Interview mit der New York Times sagte: "Meine Mutter und mein Bruder wären stolz auf mich".

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Quelle:
SZ vom 02.10.2018
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