Süddeutsche Zeitung

Religionsunterricht:Nein, das Schwein ist kein heiliges Tier im Islam

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Nirgendwo gibt es so viele Ungläubige wie im Osten Deutschlands. Wie an einem Gymnasium in Sachsen-Anhalt Aufklärungsarbeit betrieben wird.

Von Ulrike Nimz, Tangermünde

Wer im Deutschland nach Pisa noch so etwas wie Pennäler-Romantik erleben möchte, der kann nach Tangermünde in den Norden Sachsen-Anhalts fahren. Zwischen Bahnhof und Rathaus steht da ein Backsteinbau von 1896. An der Tafel wird noch mit Kreide geschrieben, das Motto der Abschlussklasse lautete "Abi looking for freedom", und in den Mädchentoiletten hat jemand nasse Papierhandtücher an die Decke gepappt, jetzt hängen sie dort wie verwaiste Wespennester. Am Diesterweg-Gymnasium, so scheint es, ist die Welt noch in Ordnung. So, wie sie beim feuerzangenbowlesaufenden Rühmann in Ordnung gewesen ist oder beim Lehrer Doktor Specht.

Nur dass sie hier eben doch ein bisschen mehr machen, als die Kids durchs Abitur zu schleusen und im richtigen Moment mahnend den Zeigefinger zu heben. Das Gymnasium darf sich "Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage" nennen. Über Monate haben Schüler und Lehrer Projekte vorangetrieben, Geld für antirassistische Initiativen gesammelt, Hefte, Stifte, Federmäppchen in eine Dorfschule nach Äthiopien geschickt. Nun gipfelt alles in einem großen Schulfest. Es gibt kein Klingelzeichen an diesem Tag, aber Marmorkuchen, dessen Konsistenz dem Namen alle Ehre macht, und Workshops zum Thema Rechtsextremismus, Asyl und Religion.

In Raum 201 wird der Sauerstoff knapp. Dreißig Schüler fläzen auf Hartplastikstühlen. Thema: "Islam und ich". Um Grundsätzliches soll es gehen, die fünf Säulen des Islam: öffentliches Glaubensbekenntnis, tägliches Gebet, Wohltätigkeit, Fasten während des Ramadan, Wallfahrt nach Mekka. Das sind die wichtigsten Regeln für Muslime. Den meisten Schülern in Tangermünde sind sie fremd.

Christoph Carmesin ist ein geduldiger Mann, Gott sei Dank. Als sie in der letzten Reihe beginnen, Papier einzuspeicheln und faustgroße Geschosse zu modellieren, zieht er nur die Augenbrauen hoch. Carmesin ist Islamwissenschaftler, steht nicht zum ersten Mal vor einer Klasse. Wöchentlich fährt er durch Sachsen-Anhalt und spricht mit Schülern über den Islam. Ob Gymnasium in Magdeburg oder Berufsschule in Quedlinburg, oft muss er ganz von vorn anfangen. Wann tragen Frauen Kopftuch? Was heißt halal, gibt es ihn überhaupt - den Islam?

Am Diesterweg-Gymnasium versucht Carmesin, das Eis zu brechen: "Schaut mich doch bitte mal genau an. Was schließt ihr aus meinem Äußeren?" Die Antworten gehen so:

Schüler 1: Ihre Brille verrät mir, dass Sie schlau sind. Und kurzsichtig.

Schüler 2: Sie haben nicht mehr so viele Haare. Sie sind also alt.

Schüler 3: Ihr Bart. Terroristen haben immer einen Bart.

Worauf Carmesin hinauswill: Klischees sind Mist, beurteile dein Gegenüber nie allein nach dem Aussehen. Eigentlich kein zu hoher Anspruch, richtete er sich nicht an Schüler mitten in der Pubertät, jener unbarmherzigen Zeit voller Kajal- und Haargel-Exzesse. Aber immerhin kommen nun Fragen, Carmesin beantwortet sie mit der nötigen Ergebenheit: Nein, das Schwein ist kein heiliges Tier im Islam. Es heißt Allahu akbar nicht Aloha, und gebetet wird so: Richtung Mekka, mit der Stirn den Boden berührend, getrennt von den Frauen. Eifriges Nicken in der ersten Reihe, aus der letzten: "Wie beim Judo?" Ein Heidenspaß.

Und Heiden gibt es hier ja genug. Die malerische Altmark - Backsteingotik, Kopfsteinpflaster, Rentner auf Rädern - ist einer der gottlosesten Landstriche der Welt. Von den 10 500 Einwohnern Tangermündes, das hat die Volkszählung 2011 ergeben, gehören etwa 15 Prozent der evangelisch-lutherischen und um die drei Prozent der katholischen Kirche an. Der Rest ist konfessionslos.

Ein Erbe des SED-Regimes, dessen Maßnahmen zur Diskreditierung des Christentums so aussahen: Jugendweihe als Ersatz für Konfirmation und Kommunion, Begünstigung von Konfessionslosen bei der Vergabe von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, die Verbannung von Kirche und Religion aus der Schule. Die Forschung nennt das "forcierte Säkularisierung". Nirgendwo wirkt die DDR so nach wie in Glaubensfragen. Im Religionsunterricht sind die Kinder ungetauft und die Lücken groß - nicht nur, wenn es um den Islam geht.

Michael Domsgen ist Professor für Evangelische Religionspädagogik und lehrt in Halle an der Saale. Er spricht von "ererbter Konfessionslosigkeit". Die Krux sei, so Domsgen, dass die wenigsten im Osten mit Religion auch nur irgendwelche persönlichen Erfahrungen verbänden. Die Elterngeneration stehe dem Glauben deutlich distanziert gegenüber und habe das an ihre Kinder weitergegeben. Bei Jugendlichen will er jedoch so etwas wie eine neue Unverkrampftheit ausgemacht haben: "Sie glauben vielleicht nicht an Gott oder Jesus Christus, aber Himmel und Hölle sind für sie wieder von Interesse."

Für Domsgen ist das eine gute Nachricht inmitten einer pädagogischen Krise. Noch immer erreiche der Religionsunterricht in Mitteldeutschland nur eine Minderheit der Schüler. Die meisten besuchen den weltanschaulich neutralen Ethikunterricht. Und für beide Wahlpflichtfächer gebe es zu wenig grundständig ausgebildete Lehrer. Das Kollegium sei oft hoffnungslos überaltert, es fehle an neuen Ideen und Perspektiven. Und das ausgerechnet jetzt, wo das Klima in Deutschland rauer wird.

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Flüchtlingskrise, Pegida, die Silvesternacht in Köln - das sind Themen, die auch in Klassenzimmern verhandelt werden und nicht immer differenziert. Domsgen sieht die wertebildenden Fächer in der Verantwortung, damit Vorurteile und rechte Ideen nicht die Überhand gewinnen. "Der Königsweg des interreligiösen Lernens ist noch immer die authentische Begegnung", sagt er. "Wichtig wäre es zum Beispiel, eine Moschee zu besuchen."

Das wiederum ist nicht so einfach in einem Bundesland, in dem es wahrscheinlicher ist, an der Bushaltestelle mit einem Neonazi aneinanderzugeraten als mit einem Muslim ins Gespräch. Gerade fünf islamische Gemeinden gibt es in Sachsen-Anhalt. Nach eigenen Angaben ist deren Mitgliederzahl durch den Zuzug von Geflüchteten im vergangenen Jahr von 1000 auf etwa 2300 gestiegen. Dem Philologenverband Sachsen-Anhalt war das Anlass genug, um in seiner Mitgliederzeitung vor "oberflächlichen sexuellen Abenteuern" zwischen einheimischen Mädchen und "sicher oft attraktiven muslimischen Männern" zu warnen. In der Altmark tauchen immer wieder Hakenkreuz-Schmierereien auf, zuletzt in Stendal und in Bismark - auf Gehwegen oder an Hausfassaden von Flüchtlingshelfern.

Die steigenden Flüchtlingszahlen waren auch der Grund, warum der damalige SPD-Kultusminister Stephan Dorgerloh Ende 2015 ein Islam-Forum ins Leben rief, zum Zwecke des interkulturellen Dialogs. Auch über die Einführung von Islamunterricht hat die schwarz-rot-grüne Landesregierung zuletzt laut nachgedacht. Die Voraussetzungen dafür seien zu prüfen, so steht es im Koalitionsvertrag. Die AfD - bei der Landtagswahl zweite Kraft - spricht sich noch lauter dagegen aus. Konkrete Pläne gibt es bislang nicht. Solange müssen sie in Sachsen-Anhalt die Lücken irgendwie schließen.

Reliunterricht als Lehrstunde in Sachen Toleranz

Mit Leuten wie Elke Levin zum Beispiel, blonde Locken, Blümchenbluse, Kreuz um den Hals. Sie ist eine dieser Lehrerinnen, die aussehen, als würden sie Kindern hauptberuflich heißen Kakao machen und den Kopf tätscheln, die tatsächlich aber schreien können wie ein Feuermelder, wenn die Babos von der letzten Bank sich mal wieder gegenseitig auf Instagram stalken. Levin, 58, unterrichtet seit der Wende in Tangermünde, das Fach evangelische Religion. Ja, es gebe Nachholbedarf, das sagt auch sie. "Deshalb gehen wir hier auch auf andere Weltanschauungen ein, nicht nur auf das Christentum. Generell gilt: Keine Frage darf zu blöd sein."

Religionsunterricht - das ist für Elke Levin immer auch eine Lehrstunde in Sachen Toleranz, kurz, Extremismusprävention. Und was erst einmal klingt wie ein Satz aus dem Schulverwaltungsblatt, wird klarer, wenn man Levins Geschichte kennt. Während des Studiums verliebt sie sich in einen Mann aus Uganda, bekommt ein Kind von ihm. Nach dem Zerfall der DDR geht er zurück in sein Heimatland. Und Elke Levin zieht ein schwarzes Kind groß, im Hinterland von Sachsen-Anhalt. Was das heißt? Dass das Kind im Freibad nicht nur vom Beckenrand geschubst, sondern verprügelt wird. Dass es auf offener Straße und von fremden Leuten mit Namen bedacht wird, die Levin nicht wiederholen will. "Niemand sollte so eine Feindseligkeit erleben müssen", sagt sie. "Schon gar nicht, wenn eine monatelange Flucht hinter einem liegt."

Dafür zu sorgen, dass aus Dorfkindern weltoffene, neugierige Bürger werden, auch das sei doch Aufgabe der Schule, meint die Lehrerin, die geblieben ist, nicht weggezogen ist ins nahe, verlockend anonyme Berlin, wo ihr Sohn heute lebt. Man könnte sagen, Elke Levin hat den Glauben nicht verloren.

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Quelle:
SZ vom 13.06.2016
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