Süddeutsche Zeitung

Regensburg:Von Schiachen und Bluatigen

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Bayerische Sagen haben früher Kinder in Angst und Schrecken versetzt. Das Buch "In rauer Nacht" mit seinen fantastischen Illustrationen belebt die Welt der Mythen auf moderne Weise.

Von Hans Kratzer, Regensburg

Sich richtig zu gruseln, das ist in unserer aufgeklärten Welt gar nicht mehr so einfach. Die einst Furcht und Schrecken verbreitenden Gestalten des Advents wie etwa der Krampus, die schiache Luz und der bluatige Dammerl haben ausgedient, darüber hinaus haben die zahllosen Morde und Gewalttaten in den Fernsehkrimis eine gewisse Abstumpfung bewirkt. Wer erleben will, wovor sich die Menschen früher gefürchtet haben, vor allem im Advent, der sollte an einem düsteren Tag den Märchenpfad auf der Rieglinger Höhe bei Regensburg aufsuchen.

Dort tauchen die Besucher im tiefen Wald in den Kosmos der alten Volksmythen ein, die vor allem die dunkle Zeit der Raunächte prägten. In einer Baumreihe ist eine Wilde Jagd installiert, so nannte man jenes Heer von Unholden, das ein Zentralmotiv der bayerischen Sagenwelt bildet.

Die greislichen Figuren sind aus Metallteilen zusammengefügt. Mit einer Schnur lässt sich das Konstrukt in Bewegung setzen, und sogleich ertönen unheimliche Geräusche. Zwischen den Baumwipfeln erhebt sich ein Flattern, die rostenden Flügel quietschen, pfeifen und klappern wie wild, und man bekommt eine Ahnung von der Drangsal durch die Mächte der Nacht und des Bösen in jenen Zeiten, in denen das Weltbild der Menschen noch stark von Mythen und vom Aberglauben geprägt war. Dem im Tölzer Land aufgewachsenen Illustrator Jan Reiser ist dieses Geschehen seit seiner Kindheit bekannt, bei ihm daheim nannte man die nächtlichen Dämonen noch Wuide Gunggl. Diese Sagenwelt begleitete ihn auch während seiner Ausbildung zum Kommunikationsdesigner an der Fachhochschule München, wo er 2003 sogar seine Diplomarbeit dem Thema "Wuide Gunggl" widmete.

Während sich viele Kommilitonen mit modernen und zukunftsorientierten Marketing- und Designkonzepten befassten, sagt Reiser, habe er in der Staatsbibliothek alte Bücher über Sagen und Märchen aus dem Alpenvorland studiert. Dabei wollte er aber keinesfalls in die volkstümelnde Kitsch-Falle tappen. "Ich suchte stattdessen nach dem Abwegigen, Düsteren und Grotesken in der bayerischen Seele", erinnert sich Reiser. Damals überredete ihn der Regensburger Verleger Herbert Wittl, eine Bilderbuchversion der berühmten Erzählung vom Brandner Kaspar in Angriff zu nehmen. Das 2006 veröffentlichte Buch eröffnete Reisers Laufbahn als Illustrator.

Nach diesem Projekt geriet ganz in Vergessenheit, dass in der Schublade des Verlegers Wittl noch ein Exemplar von Reisers Diplomarbeit schlummerte. Im Corona-Jahr fanden Wittl und Reiser nun endlich Zeit, um ein weiteres Bilderbuch über die bayerische Sagenwelt zu realisieren. Weil die Gunggl nicht mehr jedem geläufig ist, wählten sie den nicht weniger griffigen Titel "In rauer Nacht". Als weiteren Fachmann zogen sie den früheren stellvertretenden Bezirksheimatpfleger der Oberpfalz, Johann Wax, hinzu. Er ist ein Kenner der Materie und ein erfahrener Autor, der die alten Geschichten in eine aktuelle Form übersetzte, ohne sie zu verfälschen. Sagen wie "Die Moosleute im Fichtelgebirge", "Die unheimliche Waizengeiß auf der Wechselalm" und "Die Wolfsgrube von Rottach-Egern" strahlen durch den aufgefrischten Text und durch Reisers Zeichnungen in einem originellen neuen Glanz.

"Das Märchen gibt Welt, die Sage Heimat", schrieben einst die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm in ihrem Sagenwerk (1816-18). Sie traten damit eine Veröffentlichungswelle los, die bis heute anhält. 30 Jahre nach dem Grimm'schen Buch erschienen auch in Bayern die erste Sagensammlungen, nämlich "Bayerische Sagen und Bräuche" von Friedrich Panzer (1848-1855), das "Sagenbuch der Bayerischen Lande" von Alexander Schöppner (1852-53) sowie Franz Xaver von Schönwerths Werk "Aus der Oberpfalz. Sitten und Sagen" (1857-59). Sie gelten bis heute als die klassischen Sagenbücher Bayerns.

Die in den 1960er-Jahren einsetzende Publikationswelle förderte freilich eine solche Vielzahl von Material zutage, dass die Forschung diese Werke als "Schwemmsand der literarischen Kulturindustrie" beklagte. Man könnte jetzt fragen, wozu es dann auch dieses Bilderbuch noch braucht, sagt Johann Wax, der in seiner niederbayerischen Kindheit an den Raunächte noch sehr lebhaft Anteil genommen hat. Damals, als die Kinder im Advent vor lauter Angst vor den wilden Reitern und dem bluatigen Dammerl die Stube nur ungern verließen. Solche Urerfahrungen machen Kinder heute nicht mehr. Eine Ahnung verleiht das Bilderbuch, in dem die Kombination der alten Texte mit den fantasievollen Illustrationen den Sagenstoffen eine erfrischende Intensität verleiht. Es ist eine wunderbare Anregung, in die Welt der Sagen einzutauchen, die eine Ahnung geben vom Wandel menschlicher Vorstellungskraft.

Jan Reiser/Johann Wax: In rauer Nacht, Eine kleine Auswahl bayerischer Sagen. Edition Buntehunde, Regensburg, 18,90 Euro.

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SZ vom 18.12.2020
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