Süddeutsche Zeitung

Prozess um Geiselnahme in Ingolstadt:Stalkingopfer sagt aus

Lesezeit: 4 min

Vor einem Jahr brachte Sebastian Q. im Rathaus von Ingolstadt vier Personen in seine Gewalt. Unter ihnen war auch eine Sekretärin, der er schon länger nachgestellt hatte. Zu Prozessbeginn sagte die Frau unter Tränen aus.

Von Wolfgang Wittl, Ingolstadt

Als der Angeklagte den Gerichtssaal betritt, ist von ihm zunächst nur wenig zu sehen. Wie eine Schutzmauer hält er eine Zeitschrift vor sein Gesicht, um das Klicken der Kameras abzuwehren. Erst als der Vorsitzende Richter Jochen Bösl ihm zusichert, dass die Fotos vor der Veröffentlichung unkenntlich gemacht werden müssen, legt er das Heft beiseite.

Zum Vorschein kommt ein junger, blasser Mann in schwarzem Pulli und blauen Jeans, der vor gut einem Jahr ganz Bayern in Atem gehalten hat. Als Geiselnehmer von Ingolstadt brachte Sebastian Q., 25, im Alten Rathaus vier Menschen in seine Gewalt, bis ein Spezialeinsatzkommando der Polizei ihn nach stundenlangem Nervenkrieg mit drei gezielten Schüssen außer Gefecht setzte. Die Folgen sind bis heute sichtbar: Seine linke Hand kann Q. nur eingeschränkt bewegen.

Wohin dieser Prozess steuert, wird nach der Anklageverlesung schnell deutlich. Über seinen Rechtsanwalt lässt Q. erklären, dass er den Vorwurf der Geiselnahme "objektiv und subjektiv vollumfänglich" einräume. "Weder körperlichen noch seelischen Schaden" habe er seinen Opfern zufügen wollen, dafür wolle er sich "ausdrücklich entschuldigen". Auf persönliche Einlassungen verzichtet der Angeklagte, doch eines ist ihm offenbar wichtig, wie sein Anwalt Jörg Gragert später erklärt: Q. strebt eine strafrechtliche Verurteilung an, eine dauerhafte Unterbringung in der Psychiatrie will er vermeiden. Das Strafmaß liegt zwischen fünf und 15 Jahren.

Sein Zorn richtet sich gegen die Stadt

Große Polizeipräsenz war an diesem 19. August 2013 in Ingolstadt zu erwarten, wenn auch nicht in dieser Form: Kanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsident Horst Seehofer hatten sich zu einem Wahlkampftermin angekündigt. Doch bereits am frühen Morgen wird klar, dass daraus nichts wird. Um 8.30 Uhr verschafft sich Q. Zutritt zum Vorzimmer des Dritten Bürgermeisters Sepp Mißlbeck, nicht ohne vorher offenbar durch einen Anruf die Anwesenheit von dessen Sekretärin überprüft zu haben.

Weil er der jungen Frau von März 2011 an nachgestellt hatte, war Q. erst drei Wochen vorher zu einer Bewährungsstrafe von 20 Monaten verurteilt worden. Doch sein Motiv ist offenbar breiter angelegt: Q. ist wütend. Sein Zorn richtet sich gegen die Stadt Ingolstadt, die ihm seiner Meinung nach übel mitgespielt hat.

Laut Anklage hegt Q., ein ungelernter Lagerist, schon seit früher Kindheit einen Groll gegen Behörden. Er macht sie dafür verantwortlich, dass sein Vater ihn als Fünfjährigen sexuell missbraucht haben soll. Die Ämter sollen versäumt haben, ihn aus dessen Fängen zu befreien. Weil er die Sekretärin stalkte, "um eine Beziehung zu erzwingen", verbringt Q. fast ein Jahr lang in Untersuchungshaft und im Bezirksklinikum Haar.

Nach seiner Freilassung zieht er in ein Ingolstädter Obdachlosenheim, doch erneut kommt es zu Zwischenfällen mit Angestellten der Stadt. Diese erteilt ihm ein Hausverbot für sämtliche Rathäuser wie auch für das Obdachlosenquartier. Q. fühlt sich gedemütigt. Es verlangt ihn nach Genugtuung. Er entschließt sich zum Handeln.

Mit einem Messer und einer täuschend echten Pistole des Modells Walther P 99 dringt er am 19. August ins Rathaus ein. Sein Ziel: Er möchte von der Stadt eine schriftliche Entschuldigung erpressen und wohl außerdem ein Vier-Augen-Gespräch mit seinem Schwarm über eine mögliche Beziehung erzwingen. Dafür bemächtigt er sich der Frau und des Beschwerdemanagers, der bereits wiederholt mit ihm zu tun hatte. Bürgermeister Mißlbeck und eine weitere städtische Mitarbeiterin werden eher zufällig zu Geiseln. Dass die Waffe eine Attrappe ist, weiß da noch niemand. Mißlbeck werde "als Erster eine Kugel in den Kopf bekommen", ruft Q.

Der Psychoterror beginnt. Die Spezialkräfte zwingt Q. zum Rückzug, indem er der Sekretärin die vermeintlich echte Pistole an die Schläfe hält. Als die andere Mitarbeiterin und später der Bürgermeister wieder frei kommen, entschließt sich die Polizei, das Büro zu stürmen. Die Einsatzleitung ist in Sorge, dass Q. mit der jungen Frau alleine sein will. Neun Stunden nach Beginn der Geiselnahme ist der Spuk zu Ende, Q. wird nach Schüssen in Schulter, Hand und Fuß ins Krankenhaus gebracht.

Welches Martyrium dieser Tag für sie bedeutete, daran lässt die Sekretärin keinen Zweifel. Sie ist am Dienstag die erste der vier Geiseln, die in diesem Prozess aussagen. Mit gedrückter Stimme schildert die 26-Jährige, wie "Herr Q." sie in ihrer früheren Funktion bei einer Arbeitsvermittlung immer öfter aufgesucht habe. Wie er sie später trotz eines Kontaktverbots weiter behelligt habe. Als sie vom Zugriff des SEK im Büro berichtet ("auf den Boden, auf den Boden"), bricht sie in Tränen aus.

Trotz psychologischer Betreuung kämen die Ereignisse wieder und wieder in ihr hoch, sagt die Frau. Etwa wie Q. bei der Polizei für sie Kopfschmerztabletten gefordert habe mit den Worten: "Wenn die in zehn Minuten nicht da sind, bekommt sie einen Schuss in den Kopf, dann haben sich die Kopfschmerzen auch erledigt." Immer wieder habe Q. gesagt, die Geschichte werde ein blutiges Ende nehmen. "Ich hatte mit meinem Leben abgeschlossen", erzählt die Zeugin. Und dann, als alle Fragen gestellt sind, ist es ihr ein Bedürfnis, ein Schlusswort zu sprechen: "Ich hoffe, dass er mich künftig in Ruhe lässt."

Denn darauf kommt es den vier Geiseln, die in dem Verfahren als Nebenkläger auftreten, vor allem an: Wie ernst es Q. mit seiner Reue meint, welche Gefahr in Zukunft von ihm ausgehen wird. Q.s Anwalt, der ihn bereits früher verteidigt hatte, räumt ein, dass er ihm so eine Tat nicht zugetraut habe. Deshalb werde sich für das Gericht folgende Frage stellen, sagt Peter Gietl, der rechtliche Beistand der Geiseln: "Was passiert, wenn der Täter wieder freigelassen wird?" Im Moment halte er Q.s Entschuldigung lediglich "für eine prozesstaktische Erklärung". Am Donnerstag soll Bürgermeister Mißlbeck aussagen. Der Urteilsspruch ist für 24. Oktober vorgesehen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2142582
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 24.09.2014
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.