Süddeutsche Zeitung

Kratzers Wortschatz:Wer Trinkgeld gab, war sogleich ein Herr Doktor

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In Gegenden, wo sich die Menschen mit mitfühlender Ironie begegnen, ist sprachlich alles möglich: Aus dem Postboten wird ein Postminister, aus dem Arbeiter ein Chef und der Bierdimpfl wird zum Professor.

Kolumne von Hans Kratzer

Postminister

Der klassische Briefträger stirbt aus, jedenfalls meldet das die Nachrichtenagentur dpa. An seine Stelle tritt der sogenannte Verbundzusteller, der mit seinem Transporter immer weniger Briefe und immer mehr Pakete ausfährt. Der Wandel vom Brief zum Paket wird befeuert durch die aberwitzig vielen Online-Bestellungen. Auf dem Land spricht man, Paket hin oder her, nach wie vor vom Postboten. In der Landshuter Gegend tragen manche Postboten sogar den Titel Postminister, ehrenhalber. "Ah, der Postminister is da!", grüßen ihn jene Postempfänger, die einen Hang zur liebevollen Ironie haben. Einen Postminister gab es tatsächlich einmal, im Zuge der Privatisierung wurde das Bundesministerium für Post und Telekommunikation aber 1998 aufgelöst. Nun schmückt der Titel Postminister nur noch den einen oder anderen Postboten. Eine ähnliche Aufwertung erfahren auch Werktätige aus anderen Branchen. Da wird aus einem Arbeiter, der um Auskunft gebeten wird, schnell mal ein Herr Direktor oder ein Chef: "Du, Chef, wo ist denn euer Meister?" In Österreich wird quasi jeder Fiakerkutscher als Herr Professor tituliert. Die Berliner Schriftstellerin Gabriele Tergit erkannte schon 1931, dass die Leute Orden und Titel brauchen. "Sie können in Bayern fast schon jeden Prokuristen mit Herr Kommerzienrat anreden, und das Resultat ist, dass die Leute zufrieden sind."

Frau Doktor

Als der CSU-Politiker Karl-Theodor zu Guttenberg 2011 wegen seiner vermurksten Doktorarbeit zurücktrat, herrschte in Straubing Verdruss. Guttenberg fiel damit nämlich auch als Festredner für das Gäubodenvolksfest aus. Bei einer Umfrage fand die Mehrheit der Straubinger, Guttenberg könne das Fest doch auch als ehemaliger Minister eröffnen. Gerade was die Promotionsordnung betrifft, sind die Niederbayern sehr tolerant. Zwar kann man den Doktortitel noch nicht auf dem Flohmarkt kaufen, aber viel fehlt nicht mehr. Auf dem Standesamt wird schon seit jeher promoviert. Früher trug den Doktortitel nämlich nicht nur der Inhaber, sondern automatisch auch die Gattin, die beim Einkaufen manchmal mit "Grüß Gott, Frau Doktor!" angeredet wurde. Und das kommt heute noch vor. Der Autor Ludwig Fichtlscherer spottete vor Jahren darüber, dass die Bedienung im Wirtshaus zu jedem "Herr Doktor" sagt, der ein Trinkgeld gibt. "Beim nächsten Mal warst scho ein Professor." Die Titelsucht erreichte auch den Friedhof. Dort ruhen Sanitätsratswitwen, Kommerzienratswitwen, Oberlehrerswitwen . . . Bei der Trambahnritzenreinigerswitwe setzte es aus. "Da häddns an Grabstoa querlegen miassn", feixte Fichtlscherer.

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