Süddeutsche Zeitung

Krieg in der Ukraine:Geschlafen wird nur, wenn Zeit ist

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In Bayern läuft die Hilfe auf Hochtouren. Es packen viele an, darunter eine Ehrenamtliche in Nürnberg, eine Geflüchtete aus Kiew und ein ehemaliger Pfarrer aus Bamberg, der zurzeit in Polen arbeitet. Zu tun gibt es mehr als genug.

Von Clara Lipkowski, Nürnberg

Kürzlich fuhr der erste 40-Tonner ab. Es war ein sonniger, kalter Tag in Nürnberg, der 14. Kriegstag in der Ukraine und gut 20 Helfende hatten sich frühmorgens auf einem Logistikgelände im Nürnberger Norden versammelt. Sie bildeten eine Menschenkette, Paket für Paket musste rein in den riesigen Laster, alles was ging, Operationsnadeln, Spritzen, Pflaster, Spezial-Kits für Fleischwunden, sogar Krankenbetten und Rollstühle. Dann noch eine Stärkung für die beiden Fahrer und gegen Mittag rollte der Lastwagen los. Das Ziel: Przemyśl in Polen, nahe der ukrainischen Grenze, mehr als 1000 Kilometer Strecke bis zu der Stadt, die in kürzester Zeit zentraler Umschlagsort für Hilfslieferungen geworden ist.

In vielen Städten Bayerns läuft die Ukraine-Hilfe inzwischen auf Hochtouren. Seit immer mehr Geflüchtete ankommen, steht der Freistaat zwar vor allem vor der Herausforderung, sie unterzubringen. Zeitgleich aber setzen sich Autos, Sprinter und Lastwagen in die entgegengesetzte Richtung in Bewegung. Hilfsorganisationen rotieren vor allem in größeren Städten wie Würzburg, Augsburg und Regensburg, Freiwillige arbeiten in Extraschichten.

In Nürnberg heißt eine dieser Gruppen "One Europe". Ein eigentlich kleiner Verein, der den kulturellen Austausch zwischen der Ukraine und Nürnberg pflegt, etwa mit Treffen von Jugendlichen und Holocaust-Überlebenden. Jetzt aber ist die Hilfe für die Ukraine "Priorität Nummer Eins", sagt der Vorsitzende Andrej Novak. Das heißt: Spenden und Großeinkäufe von medizinischem Material möglichst schnell in die Ukraine bringen.

"One Europe" hat mit einem Hilfsnetzwerk aus der Region, darunter der Verein "Bamberg:UA", auf dem Logistikgelände schon kurz nach dem ersten russischen Angriff auf die Ukraine ein Lager hochgezogen, zwei Vollzeitarbeitsplätze mit Computer eingerichtet, finanziert von Vereinsspenden - und ein Sortier- und Verladesystem etabliert. Tanja Ehrlein, 30, ukrainische Nürnbergerin, von "Bamberg:UA", führt Mitte März durch die Reihen der Kartons. Schmerzmittel hier, Antidepressiva da, Schlafsäcke auf der anderen Seite. 50 Tonnen Hilfsgüter haben sie bis Mitte März in die Ukraine gebracht. 12 000 Euro Spendengeld von "One Europe" wurden bereits investiert. Inzwischen arbeiteten sie hier mit gedruckten Labels und QR-Codes, "das macht das Beladen der Busse einfacher", sagt sie. In der Krise lernen die NGOs schnell.

Die Spendenmengen sind riesig. So sehr, dass Ehrlein und das Team die viele Kleidung zum Roten Kreuz in der Stadt fahren. Die brauche es jetzt eher hier, für die ankommenden Menschen, die überhastet, ohne Gepäck geflohen sind. In der Ukraine mangele es vor allem an Krankenhausausstattungen. Zuletzt konnten sie von einer Klinik gespendete Ultraschallgeräte transportieren.

Auch Anna Rozengurt, 41, hilft mit, die zu Beginn des Kriegs aus der Ukraine geflüchtet ist. Sie kennt mittlerweile das Team in der zugigen Lagerhalle, steuert aber vor allem Großlieferungen mit ihrem Mann, der in der Ukraine blieb. Davon erzählt sie bei einem Tee inmitten der Kartons. In der Wohnung von "One Europe"-Chef Novak, den sie privat kennt, konnte sie sich einrichten. Ein Schreibtisch, zwei Bildschirme, die sozialen Medien permanent im Blick, vor allem Telegram, Facebook.

Sie floh mit ihrem achtjährigen Sohn aus Kiew, der Stadt, in der sie, die Kosmopolitin, die Regisseurin, hängen geblieben war. Genauer: sie, ihr Mann, Filmemacher, und ihr Sohn. Sie lebte im russischen Rostow, wo sie herkommt, in Israel, wo sie Familie hat, irgendwann kamen sie gemeinsam beruflich für ein paar Wochen nach Kiew und blieben sechs Jahre. Und jetzt? Sitze sie an diesen Bildschirmen und tue, was sie kann, wie sie sagt. 70 000 Euro haben sie und ihr Mann gesammelt und vor allem Medikamente und Verbandsmaterial gekauft und nach Charkiw, Kiew und Tschernihiw bringen lassen. 600 Liter Infusionslösung aus Düsseldorf lotsten sie zum Charkiwer Zentralkrankenhaus. "Jetzt warten wir auf eine Ladung L-Thyroxin, ein Hormon für die Schilddrüse."

Anfangs schickten sie - noch in Kiew, später in ihrem ersten Zufluchtsort Lwiw - anderen Fliehenden Informationen, wie sie die Hauptstadt verlassen können, über welche Brücke, mit welchem Zug, erzählt sie. "Man weiß ja nicht, wer ist Saboteur und wer nicht." Als es mehr und mehr Verwundete gab, legten sie den Fokus auf die Medizin. Praktisch Tag und Nacht arbeite sie, sagt Novak. Sie vermisse ihren Mann, meint Rozengurt. "Ich will am liebsten nach Kiew." Zurück in ihr altes Leben. "Aber unsere Stadt wird nicht mehr so sein wie vorher." Aus mehreren Orten hört man derzeit, dass Frauen zurückgehen. Zu ihren Männern und weil sie die Ohnmacht im Exil nicht ertragen. Dabei war es selbst in Lwiw für Rozengurt zu gefährlich. Ihr Mann muss sich dort für den Wehrdienst bereit halten.

Unweit von Lwiw, im polnischen Przemyśl, mitten auf einem großen Umschlagplatz, den auch Tanja Ehrlein und ihr Team anfahren, erreicht man dieser Tage einen Bamberger Geistlichen. Am Handy erzählt Bogdan Puszkar, dass gerade eine Spende von Krankenwagen angekommen sei. "Hier läuft die Hilfe aus ganz Europa zusammen", sagt er.

Puszkar, 65, war früher Pfarrer der ukrainischen griechisch-orthodoxen Kirche in Bamberg. Jetzt koordiniert er, dass die Lieferungen aus Bayern auf Fahrzeuge mit ukrainischem Kennzeichen umgeladen und weitergefahren werden. Oder dass die Krankenwagen oder Feuerwehrwagen an ihre Zielorte kommen. "Meine Aufmerksamkeit ist den Menschen gewidmet, die geblieben sind", sagt er. Ständig hänge er am Telefon, spreche sich mit der militärisch-zivilen Verwaltung in Lwiw ab, fahre auch rüber, in die Ukraine. Schlafen in dem katholischen Kloster, in dem er ein Bett habe, gehe schon, aber auch nachts gegen zwei, drei Uhr kämen die Transporter. Also ruhe er sich aus, wenn Zeit dafür ist. Dann warnt er noch: "Aus wenn es absurd klingt, die Ukraine gilt ja als Kornkammer Europas. Aber schon bald werden wir auch Lebensmittel brauchen."

Unterdessen bereitet Tanja Ehrlein in Nürnberg die nächste Lieferung vor. Sie ist auch schon selbst gefahren, mit ukrainischem Kennzeichen. Die Übergabe fand kurz hinter der polnischen Grenze statt, unweit eines zuvor bombardierten Militärstützpunkts. Sie sei eigentlich ein pazifistischer Mensch, sagt Ehrlein, "aber in diesen Tagen überlegt man wirklich, ob man nicht doch noch mal eine Grundausbildung macht".

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