Süddeutsche Zeitung

Als das Leben stillstand:Bayerns erster Lockdown

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Ein Kälteeinbruch führte im Dezember 1946 dazu, dass viele Betriebe die Arbeit einstellen mussten, weil die Kohlevorräte zur Neige gingen.

Von Hans Kratzer, München

Die Corona-Pandemie versetzt viele Menschen in Angst und Sorge. Aber so gefährlich diese Plage auch sein mag, die ersten Nachkriegsjahre bedrückten die damalige Bevölkerung noch weitaus heftiger. "Im Frühjahr 1945 lag Bayern da wie 300 Jahre vorher am Ende des Dreißigjährigen Krieges", fasste der Historiker Benno Hubensteiner jene Not prägnant in einem Satz zusammen. Das Land war zerstört, die Menschen waren desillusioniert, bei den meisten ging es auf Jahre hinaus um das nackte Überleben. Überdies führte die Ankunft von mehr als zwei Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen in Bayern zu einer quälenden Wohnungsnot und zu einem Mangel an Lebensmitteln, Brennstoff und Kleidung. Noch dazu erfolgte im Dezember 1946 ein Kälteeinbruch, der die Notlage dermaßen verschärfte, dass in Bayern ein Teil-Lockdown in Kraft trat.

Phänomene vom Schlage eines Lockdowns wiederholen sich also. Nur, dass man dieses Wort damals noch nicht verwendete. An Weihnachten 1946 wurde jedenfalls in Bayern zum Teil die Arbeit eingestellt, weil die Kohlevorräte zur Neige gingen. Diese Entwicklung ist dokumentiert im Protokoll des Landtags vom 21. Dezember 1946, wo nachzulesen ist, dass in vielen Betrieben vom 23. bis zum 31. Dezember zwangsweise die Arbeit ruhte. Diese Stilllegung sollte bewirken, dass man wenigstens mit einer kleinen Kohlenreserve in das neue Jahr 1947 starten konnte.

Neben der Versorgung von Flüchtlingen, die zum Teil nicht einmal das wenige ihnen zugewiesene Holz bezahlen konnten, ging es in der Sitzung um die Grundversorgung der Bevölkerung mit Schuhen, Textilien, Fahrraddecken und dergleichen, sowie darum, Ausgebombte mit Küchen und Schlafzimmerausstattungen zu versorgen. Überdies debattierte man über die schwierig zu finanzierende Vergütung von Lohnausfällen in der Zeit des Stillstands. Wirtschaftsminister Ludwig Erhard sagte in jener Sitzung, die Arbeiter müssten auf jeden Fall Gewissheit haben, 90 bezieungsweise 75 Prozent ihres Lohns ausbezahlt zu bekommen. Die Weihnachtsgratifikationen dürften nicht dazu dienen, Verdienstausfälle auszugleichen. Der Landtag beschloss schließlich, den dadurch entstehenden Lohnausfall der Arbeiter zu ersetzen.

Der Winter 1946/47 zählte zu den kältesten Perioden des 20. Jahrhunderts. In ganz Deutschland erfroren Menschen, Hungerödeme waren keine Seltenheit. Laut einem Bericht des Donaukuriers schwankten von Weihnachten 1946 bis Anfang Februar 1947 die Tiefsttemperaturen in Ingolstadt zwischen minus 19 und minus 23 Grad. Da es kaum Holz und Kohle gab, gruben die Menschen aus den gefrorenen Böden in Schwerarbeit Wurzelstöcke aus. Wegen Kohlemangels schlossen auch in Ingolstadt Fabriken ihre Tore. Die Stadtverwaltung richtete am 2. Januar 1947 öffentliche Wärmestuben in Gasthäusern ein.

Ein halber Löffel Zucker, ein kleines Stück Fett, ein Bissen Fleisch, zwei Kartoffeln, eine Prise Kaffee-Ersatz und ein Schluck Magermilch - das war damals die Tagesration eines Erwachsenen in München. Der Landeshistoriker Ferdinand Kramer sagt, die bäuerlich strukturierten Dörfer seien besser versorgt und auf Hilfslieferungen weniger angewiesen gewesen. Zum Winterbeginn 1946/47 kamen in Ingolstadt täglich etwa 70 bis 80 Care-Hilfspakete aus den USA an. Das Leben lief damit mehr schlecht als recht weiter.

In der Ministerratssitzung vom 30. Dezember 1946 drängte Ministerpräsident Hans Ehard (CSU) auf die Wiedereröffnung der Münchner Universität. Die Studenten, argumentierte er, befänden sich in so großer wirtschaftlicher und sozialer Not, dass schnelle Hilfe nötig sei. Zur Beheizung der Universität sollte von anderswo her Heizmaterial abgezweigt werden. Staatsminister Joseph Baumgartner hatte etwa erfahren, eine Münchner Firma habe gegen Lieferung von Hosenträgern 400 Zentner Kohlen vom Bergwerk erhalten.

Noch gestaltete sich das Leben äußerst primitiv. Der Landtag zog von einem Sitzungslokal zum nächsten. Meistens konnten Abgeordnete und Journalisten nur auf ein einziges Telefon zurückgreifen, was oft in ein Gerangel mündete. Jeden quälte der Hunger. "Meine Tagesration konnte ich mit der Briefwaage wiegen", sagte der Journalist Bernhard Ücker. Da die Aula in der Uni nicht geheizt war, wurde Ministerpräsident Ehard dort im Wintermantel vereidigt. Wegen des Papiermangels kritzelten die Journalisten ihre Notizen auf Zettel, wer einen Bleistiftstummel besaß, war privilegiert, Kugelschreiber gab es nicht. "Abgeordneter zu sein, war nicht verlockend", sagte Ücker. Freie Tage gab es kaum. Als er an einem Faschingsdienstag gegen 12 Uhr ging, sagte Ehards Vorgänger Wilhelm Hoegner: "So meine Herren, jetzt haben wir heute ganz fleißig gearbeitet, den Nachmittag könn' ma dann schon frei nehmen."

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SZ vom 29.12.2020
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