Süddeutsche Zeitung

#WerkstattDemokratie:Von der Natur des Wohnens

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Schon zu Urzeiten haben Menschen Schutz vor Witterung und Raubtieren gesucht. Das Bedürfnis nach einer Behausung steckt in unseren Genen. Aber welche Ansprüche stellt die menschliche Natur ans Wohnen?

Essay von Markus C. Schulte von Drach

Ein Dach über dem Kopf und Wände, die uns Kälte, Hitze, Wind und Regen vom Leib halten, gehören zu den wichtigsten Grundbedürfnissen des Menschen. Räume, die uns möglichst auch noch vor Raubtieren oder Feinden schützen, dürften schon für unsere Vorfahren vor Tausenden oder sogar Millionen Jahren von großer Bedeutung gewesen sein.

So wie sich bei den Ur- und Frühmenschen in den afrikanischen Savannen geistige Kapazitäten entwickelten, die die Herstellung von Werkzeugen ermöglichten, entstanden auch das Bedürfnis, Schutzräume zu finden, und offensichtlich auch die Fähigkeit, Unterstände selbst herzustellen. Wie der Mensch wohnen will, dürfte demnach Teil seiner Natur sein.

Dafür spricht auch, dass Menschen überall auf der Erde, unabhängig von der Lebensweise und Kultur, künstliche schützende Strukturen errichten: Sie bauen Behausungen, ähnlich wie Vögel sich Nester bauen, Biber Dämme und Termiten Türme errichten.

Aber welche Ansprüche stellen Menschen aufgrund ihrer Evolution "von Natur aus" an ihre Behausungen?

Angepasst als Jäger und Sammler

Diese Frage zu beantworten, ist schwierig. Der "moderne" Mensch hat während der allerlängsten Zeit seiner Existenz in Jäger- und Sammlergesellschaften gelebt. Erst vor vermutlich zwölf- bis vierzehntausend Jahren wurden in Vorderasien, im sogenannten Fruchtbaren Halbmond um die Flüsse Euphrat und Tigris, die ersten Menschen sesshaft und begannen mit dem Ackerbau.

Wie die Jäger und Sammler ihre Schutzräume errichtet haben, darüber wissen Paläoanthropologie und Archäologie wenig. Pfeilspitzen, Steinwerkzeuge, Tierknochen und auch menschliche Skelette werden immer wieder gefunden, doch über Wohnstätten geben sie keine Auskunft - außer, die Funde stammen aus Höhlen.

Hier suchten Jäger und Sammler offenbar Zuflucht, und solche Höhlen gestalteten sie zum Teil sogar schon vor Zehntausenden Jahren, wie die Wandmalereien von Lascaux, Altamira oder Chauvet in Frankreich und Spanien eindrucksvoll belegen. Auch unterhielten Menschen und ihre Vorläufer in Höhlen bereits vor Hunderttausenden von Jahren Feuer. Mehr ist nicht bekannt.

Es fehlen also wichtige Informationen gerade über die stammesgeschichtlich ältesten Formen des Wohnens, die die entsprechenden Anpassungen der Menschen an die Umwelt unmittelbar widerspiegeln würden.

Es spricht natürlich nichts dagegen, sich Behausungen der Ur- und Frühmenschen ähnlich vorzustellen wie die von Gruppen, die bis unsere Gegenwart hinein ähnlich lebten oder heute noch leben. Völker wie die Hadza in Tansania oder manche Nomaden in West- und Zentralafrika etwa führen Zelte oder Jurten mit sich oder wohnen in schnell errichteten kleinen Hütten aus Ästen, Blättern, Lehm und Gras.

Mit der Entwicklung der Landwirtschaft und der Sesshaftigkeit gingen gravierende Veränderungen im Wohnen einher. Während Jäger und Sammler ihre Aufenthaltsorte immer wieder wechselten, etwa um Herden hinterherzuziehen, fesselte der Acker die Bauern an einen bestimmten Ort. Statt mobiler Behausungen wurden nun langfristig genutzte Holz-, Lehm- und Steinhäuser errichtet, die sich immer weiter ausbauen ließen. Das eröffnete über die Jahrtausende eine Vielzahl neuer Möglichkeiten der Gestaltung - vom Holzhaus bis zum modernen Wohnblock aus Stahl und Beton.

Vielfältiges Wohnen, vom tropischen Regenwald bis ins ewige Eis

Das führt zum zweiten Problem: die Vielfalt der Behausungen und die Fähigkeit des Menschen, dank ihner sogar unter extremen Bedingungen zu überleben. Von den Tropen bis zum ewigen Eis, von Wüsten bis Hochgebirgen, überall leben Menschen. Und zwar in großen oder kleinen Behausungen für wenige Personen oder ganze Familien, in Wohnungen für ganze Gruppen mit und ohne Zwischenwände, in Einfamilien- und Mehrfamilienhäusern, in Dörfern, Städten, Großstädten und Megacitys. Und die Menschen gestalten ihre Wohnungen in Abhängigkeit der jeweiligen Kulturen.

"Das macht es schwierig, eine evolutionäre Basis für eine Theorie vom menschengerechten Wohnen zu finden", sagt Karl Grammer, Verhaltensbiologe und lange Zeit Direktor des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Stadtethologie in Wien.

Dass Menschen sich Wohnungen schaffen wollen und können, um sich vor Witterung und Feinden zu schützen, steckt also wohl in ihren Genen. Aber wie sie wohnen - da sind sie extrem flexibel und anpassungsfähig.

Immerhin: Betrachtet man die Ansprüche, die an Behausungen weltweit gestellt werden, so sind eine Reihe von Übereinstimmungen zu finden.

Privatheit

Wohnungen sollen es in der Regel ermöglichen, sich vor dem Rest der Gesellschaft zurückzuziehen und ein gewisses Maß an Privatsphäre und Intimität schützen. "Sie müssen eine Tür hinter sich zumachen können", sagt Grammer. "Das scheint in so ziemlich allen Kulturen eine Rolle zu spielen. Auch Jäger und Sammler bauen ihre Hütten heute so, dass die Eingänge nicht aufeinander zeigen."

Wie wichtig es vielen Menschen in unserer Gesellschaft ist, die Kontrolle über den Zugang zur eigenen Wohnung zu haben, zeigt schon der Artikel 13 Absatz 1 des Grundgesetzes: "Die Wohnung ist unverletzlich." Selbst die Staatsgewalt darf die Privatsphäre der Wohnung nur in Ausnahmefällen verletzen. Und wer einmal erlebt hat, dass in die eigene Wohnung eingebrochen wurde, weiß, wie unsicher man sich danach fühlt.

Doch auch hier zeigt der Mensch eine große Flexibilität. So bewohnen bei den südamerikanischen Yanomami zum Beispiel etliche Familien gemeinsam eine einzige große Hütte, jeder Haushalt verfügt über einen bestimmten Bereich, aber ohne Trennwand zu den Nachbarn. Westeuropäer würden solche Verhältnisse als unzumutbar empfinden. Für sie gelten schon kleine, hellhörige Wohnungen in "Wohnsilos" als problematisch.

Wasser und Grün

Menschliche Behausungen sind üblicherweise so beschaffen, dass Zugang zu Trinkwasser und Nahrung gewährleistet ist. Das beginnt mit dafür vorgesehenen Stauräumen, betrifft aber auch besonders die Lage von Wohnungen. So scheint es wichtig zu sein, dass in der Umgebung Wasser und Pflanzen vorhanden sind. Wie verhaltensbiologische Studien gezeigt haben, fühlen sich Menschen in Stadtvierteln mit öffentlichen Brunnen und Bäumen wohler als in Stein- und Asphaltwüsten. Auch das Bedürfnis nach Grünpflanzen in der Wohnung lässt sich vermutlich so erklären.

Bereits der unlängst verstorbene Verhaltensbiologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt, einer der Pioniere der Forschung zu Biologie und Wohnzufriedenheit, hat in diesem Zusammenhang vor Jahrzehnten die Begriffe Phytophilie und Aquaphilie eingeführt - also die Vorliebe für Pflanzen und Wasser. Schließlich handelt es sich um Ressourcen, die schon für das Überleben unserer Vorfahren existenziell waren. "Wenn die Menschen keine Präferenz für Wasser und Grün hätten, hätten sie in der Vergangenheit wohl nicht überlebt", sagt Grammer.

Eine Präferenz zu haben, bedeutet allerdings nicht, dass ein Bedürfnis zwingend gestillt werden muss. "Wie geht denn der Inuk mit seiner Phytophilie um?", fragt der Wiener Verhaltensbiologe. "Der müsste sich ja ständig unwohl fühlen." Solche Beobachtungen belegen ihm zufolge die immense Fähigkeit des Menschen, sich anzupassen - Präferenzen hin oder her.

Eine Umgebung, in der man sich zurechtfindet

Was ebenfalls wichtig zu sein scheint und möglicherweise ein evolutionäres Erbe der Jäger und Sammler ist, ist die "Lesbarkeit" der unmittelbaren Umwelt. "Unsere Vorfahren mussten in der Lage sein, sich in ihrer Umgebung zurechtzufinden", so Grammer. Wer sich verläuft und nicht mehr heim findet, ist in Gefahr. Eine Vorliebe für eine übersichtliche Umgebung dagegen dürfte sich als Vorteil erwiesen haben. Es gibt also vermutlich Präferenzen dafür, sich in eher übersichtlichen Landschaften niederzulassen. Vielleicht hängt damit auch zusammen, dass viele Menschen an Wohnungen einen guten Ausblick schätzen.

Grammer geht allerdings davon aus, dass hier auch die Prägung wirkt: Wir bevorzugen eine Landschaft wie jene, in der wir aufgewachsen sind oder in der wir die meiste Zeit unseres Lebens verbracht haben. Damit sind wir vertraut. Stadtkind und Landkind, die Liebe für die Berge oder das Meer - solche Merkmale legen wir offenbar nicht so leicht ab.

Soziale Kontakte

Menschen organisieren sich in Gruppen, es gibt ein starkes Bedürfnis nach sozialen Kontakten, Anteilnahme, Zuwendung, Anerkennung und letztlich nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit und Teilhabe. Deshalb werden Wohnungen meist nicht zu weit entfernt von anderen Behausungen errichtet, oder in der Nähe von Orten, wo sich Menschen begegnen und austauschen können.

Aber auch dort, wo Menschen bereits auf engem Raum leben - nämlich in großen Wohnanlagen -, begegnen sie sich häufig kaum, oder sie bleiben sich fremd, manche leben für sich, sind geradezu anonym in der Masse. Aber "je mehr die Menschen sich sehen können, umso höher ist die Wohnzufriedenheit", sagt Grammer. Das zeigen Erfahrungen aus Wien, wo der Architekt Harry Glück, der mit Biologen wie Grammer zusammenarbeitete, zum Beispiel den Wohnpark Alterlaa baute. Seit 1985 stehen die Wohntürme mit mehr als 3000 Wohnungen, aber auch mit Sozialräumen und sogar Gemeinschaftspools auf den Dächern. Orte, wo sich die Menschen kennenlernen. Die Zufriedenheit der Bewohner ist wissenschaftlich belegt.

Auch ganz einfache Maßnahmen können wirken: Für die Bewohner eines anderen Wohnblocks in Wien konnte die Wohnzufriedenheit schon dadurch erhöht werden, dass die Zahl der Eingänge veringert wurde, sagt Grammer. "Die Menschen sind sich danach häufiger über den Weg gelaufen - und das hat ihnen offenbar gut getan."

Ruhe

Eine wichtige und wenig überraschende Funktion von Wohnungen ist, dass die Menschen ungestört und geschützt schlafen, sich erholen oder entspannen können. Wie wichtig ein ungestörter Schlaf ist, zeigen die gesundheitsschädlichen Folgen etwa von Lärm durch Flugzeuge, Autos und der Stress, den selbst Kirchenglocken auslösen können.

Gestaltungsmöglichkeiten

Wie sich Menschen einrichten, spricht dafür, dass es ein Bedürfnis nach individuellen, autonomen Gestaltungsmöglichkeiten gibt. Wie der Sozialpsychologe Markus Brändle-Ströh von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften schreibt, müssen Menschen "zunächst einen kleinen territorialen Ausschnitt und den dazugehörigen Raum sich zu eigen machen, 'markieren', gestalten und erkennbar 'ausschildern' können". Ähnlich sieht es die Architekturpsychologin Tanja Vollmer von der Technischen Universität Berlin im SZ-Interview: "Menschen haben eine stark territorial ausgeprägte Wahrnehmung. Der eigene Körper ist unser intimster Raum. Von dort aus nehmen wir die Räume um uns herum in Besitz."

Dieses Bedürfnis wirkt sich allerdings nicht nur auf die Einrichtung von Behausungen aus, sondern zeigt sich zum Beispiel bei der Gestaltung des Arbeitsplatzes, bei der Wahl der Kleidung oder der Entscheidung, welches Auto man fahren möchte. Auch ästhetische Aspekte spielen eine große Rolle. Ganz wichtig ist hier allerdings der Einfluss der Kultur. Verhaltensbiologen wie Grammer halten sich deshalb zurück bei der Beurteilung, welche Rolle die Evolution des Menschen in diesem Zusammenhang gespielt haben könnte. Da sind eher Architektur- und Wohnpsychologen gefragt.

Die Größe des Wohnraums

Wie groß eine Wohnung sein muss, oder wie klein sie sein darf, damit Menschen sich wohlfühlen, lässt sich mit der Evolution nicht erklären. "120 Quadratmeter Wohnfläche - das ist in den USA ein kleines Haus, in Deutschland ein mittelgroßes, und in China ist es riesig", sagt Grammer.

In manchen Großstädten müssen Bewohner mit Wohnungen von weniger als 20 Quadratmetern Fläche vorliebnehmen. In Hongkong etwa stehen für besonders Arme nur noch Wohnboxen zur Verfügung, sogenannte Käfigwohnungen. Die Betroffenen sind damit definitiv nicht glücklich. Eine Mindestgröße für Wohnzufriedenheit lässt sich trotzdem nicht bestimmen. Zu viele andere Faktoren spielen eine Rolle.

Ausblick auf die Zukunft

Die Erkenntnisse der Verhaltensbiologie deuten darauf hin, dass Menschen zwar ein natürliches Bedürfnis haben, sich in schützende Räume zurückzuziehen und von Natur aus mit der Fähigkeit ausgestattet sind, solche selbst zu errichten. Wie Wohnraum aber konkret gestaltet werden sollte, lässt sich nicht unmittelbar als evolutionäre Anpassung erklären.

Trotzdem bleiben diese Bedürfnisse essenzielle Teile der Natur des Menschen, die der Wohnungsbau angemessen berücksichtigen sollte. Das aber ist nicht der Fall. Projekte wie die des Wiener Architekten Harry Glück gibt es noch immer viel zu selten. Die Forschung der Verhaltensbiologen in Wien wurde aufgrund mangelnden Interesses an ihren Ergebnissen eingestellt, ihre Empfehlungen wurden kaum berücksichtigt. Erst in jüngster Zeit etwa hat Wien - auf die Empfehlung der Biologen hin - begonnen, die Stadt zu begrünen. Bäume sind eben teuer. "Und leider", so Grammer, "legen viele Architekten heute noch immer mehr Wert darauf, abstrakte Plätze zu gestalten und mit Kunst zu bepflastern als für Wasser und Grün zu sorgen."

Auch die relativ neuen Gebiete der Wohn- und Architekturpsychologie haben mehr Aufmerksamkeit verdient. Sie interessieren sich weniger für die Natur des Menschen; sie untersuchen eher die Auswirkungen der gebauten Umwelt auf die Psyche, identifizieren Probleme und diskutieren, wie sich die Wohnzufriedenheit verbessern lässt. Damit beleuchten sie Faktoren, die auch mit unserem evolutionären Erbe zusammenhängen, nur von einer anderen Seite her.

Viele Städte weltweit stehen vor der Herausforderung, Wohnraum für eine schnell wachsende Zahl von Einwohnern zu schaffen. Werden die natürlichen Bedürfnisse der Menschen nicht ausreichend berücksichtigt, müssen die Städte mit mehr unzufriedenen Bürgerinnen und Bürgern rechnen - und somit mit zunehmenden sozialen Spannungen.

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