Süddeutsche Zeitung

Kambodscha:Der Tempeldoktor von Angkor Wat

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Schwitzend und in Latzhose verlängert Hans Leisen im Dschungel Kambodschas das Leben steinerner Nymphen. Er kämpft gegen Pfusch, Zement, chinesische Grapscher - und gegen die Vergänglichkeit.

Von Arne Perras, Angkor Wat

Ein zauberhaftes Lächeln umspielt ihren Mund. Sie ist eine Schönheit, und das schon seit 900 Jahren. Aber sie leidet. Risse ziehen sich quer durch ihr Gesicht. Wenn nichts geschieht, wird die himmlische Nymphe bald verloren sein.

Hans Leisen, Geologe und Denkmalpfleger aus Deutschland, betrachtet sie eingehend und voller Sorge. Er kennt das Schicksal der in Stein gehauenen Schönheiten. Deshalb ist er so oft in Kambodscha. Er möchte, dass auch spätere Generationen etwas haben von den sagenhaften Geschöpfen am Götterhimmel von Angkor Wat.

Dieser Tempel ist das größte Heiligtum der Stadt Angkor, die einst den Kern des Khmer-Reiches bildete. Dessen Könige herrschten vom neunten bis ins 15. Jahrhundert über große Gebiete Südostasiens, Hinduismus und Buddhismus prägten ihre Kultur. Was übrig blieb vom großen Reich, bildet heute eine der wichtigsten und größten archäologischen Stätten der Welt. Seit 1992 zählt Angkor zum Weltkulturerbe. Berühmt sind seine riesigen Naturstein-Reliefs, die von alten Schlachten künden, von Göttern und Dämonen, vom ewigen Kampf zwischen Gut und Böse. Manche Tempel und Klöster waren lange vom Urwald überwuchert, bevor Forscher sie wieder freilegten.

Innen ist der Sandstein mürbe. Leisen weiß: Hier muss dringend etwas geschehen

Inzwischen ziehen die Kulturschätze in Kambodscha mehr als zwei Millionen Besucher im Jahr an, und alle können sehen, wie Nymphen, Götter und Dämonen immer mehr verfallen. Berühmt sind die Apsaras und Devatas, so heißen die weiblichen Geschöpfe, die auf den vielen Reliefs von Angkor zu bestaunen sind. Die meisten gehören längst zu Leisens Patientinnen. Man darf das so sagen, auch wenn es hier um Steine geht. Der Professor stellt Diagnosen und sucht nach Mitteln, um den sagenhaften Gestalten noch ein möglichst langes Dasein zu ermöglichen. Hans Leisen, ein Meister im Konservieren, ist der Tempeldoktor von Angkor Wat.

Brütende Mittagshitze hält den bärtigen 66-Jährigen nicht auf. In blauer Latzhose klettert Leisen an einem Freitagmittag die Metalltreppe hinauf zum Gerüst. Dort oben, viele Meter über dem Boden, lässt sich ein Giebel am Eingangsbau aus der Nähe betrachten. Leisen klopft vorsichtig mit dem Knöchel seines Mittelfingers gegen das Relief, von dem schon einige Teile abgebröckelt sind. Zu hören ist ein hohler Klang, als würde man gegen ein steinernes Gefäß klopfen. Leisen ist dieser Ton nur allzu vertraut. Innen ist der Sandstein mürbe. Hier muss schnell etwas geschehen. Sonst wird die Nymphe unweigerlich herunterbrechen, genauso wie der Dämon mit seinen großen Glubschaugen, der etwas tiefer im Giebel sitzt und glotzt.

Angkor Wat ist aus tonnenschweren Sandstein-Blöcken errichtet worden, und bis heute zählt es zu den großen Rätseln, wie die Menschen die Gesteinsriesen transportiert und aufeinander geschichtet haben. "Aber man weiß, dass sie damals bis zu 20 Tonnen schwere Steine bewegen konnten", sagt Leisen. Am Giebel wiegen sie vier bis fünf Tonnen pro Stück, doch auch das schützt sie nicht vor dem Verfall.

Tags zuvor hatte Leisen gefragt: "Wollen Sie unsere kleinen Feinde mal sehen?" Und dann hatte er eine Mappe mit Fotos herausgezogen. Sandstein, tausendfach vergrößert unter dem Rasterelektronenmikroskop. Das sieht aus wie eine wilde Gebirgslandschaft. Die großen Brocken sind der Quarz, und dazwischen hängen viele flockenförmige Gebilde. "Tonminerale", sagt Leisen. "Die machen die Probleme."

Leisen nennt das "Schalenbildung", wenn Wasser in den porösen Sandstein eindringt und im Innern die Tonminerale aufquellen lässt. Geschieht dies über einen langen Zeitraum, so lösen sich irgendwann Teile ab und brechen weg. Diesen Zerfall kann Leisen bremsen, indem er die Spalten mit flüssigem Mörtel füllt.

"Botox für die göttlichen Nymphen" scherzte einmal ein Gast, als Leisen mit der Spritze hantierte. "Na ja", sagt er. "Ein Schönheitschirurg bin ich wahrlich nicht." Es gehe auch nicht um Kosmetik, sondern um ein längeres Leben für die leidenden Gestalten, die Wände und Giebel des Heiligtums bevölkern.

Tag für Tag wandern Tausende durch die alte Tempelwelt, oft ist es schon mehr ein Schieben. Und dieser Andrang schafft wieder ganz neue Probleme. Denn längst nicht alle halten sich an die Regel, die bröckelnden Reliefs nur zu betrachten. Man kann das an diesem Tag beobachten, als eine chinesische Reisegruppe lärmend um die Ecke biegt. Ein Seil ist als Absperrung gespannt, aber das hindert nicht alle daran, hinüberzugreifen und auf den Stein zu patschen.

Ausgerechnet Zement! Eine Todsünde

Ein Wächter an der Ecke hat alles gesehen, er müsste jetzt eingreifen, aber er sagt nichts. Die Grapscher kommen von überall her, aus Asien, Amerika, Europa. "Das Wachpersonal müsste einfach strenger sein", sagt Leisen. Jetzt schaut der Professor selbst ganz streng, was gar nicht so recht passt zum umgänglichen Gemüt des gebürtigen Allgäuers, der in Lindenberg aufgewachsen ist. Als junger Geologe hat Leisen in Südafrika promoviert, später war er Forscher am Bayerischen Amt für Denkmalpflege, bevor er einen Ruf als Professor an die Fachhochschule Köln bekam.

Deutschland mag weit weg sein von Angkor Wat, aber manche Steine ähnelten sich doch sehr, sagt Leisen. Zum Beispiel der sogenannte Mittlere Keuper im Fränkischen. Die bayerischen Denkmalpfleger standen also am Kloster Birkenfeld in Neustadt an der Aisch vor ganz ähnlichen Problemen wie Leisen im tropischen Kambodscha.

Das Konservieren ist eine Wissenschaft für sich. Pfusch habe es hier schon viel gegeben, klagt Leisen. Mit allen möglichen Mitteln haben frühere Stein-Quacksalber hier für Schäden gesorgt. Manchmal sieht Leisen Stellen, wo sie früher Zemente eingesetzt haben. "Eine Sünde." An anderen Orten entdeckt er Acrylharz. "Verheerend." Denn letztlich machten diese Stoffe alles nur noch schlimmer.

Früher hat ein indisches Team Biozide auf der Anlage versprüht, um Pilze und Algen auf den Steinoberflächen abzutöten. Das Gift hat zwar offenbar viele Organismen vernichtet, vor allem Flechten. Aber Pilze und Algen wuchsen fortan besser als zuvor, weil es keine Konkurrenz mehr gab. Sie färbten den Stein ganz schwarz.

Leisen hingegen studiert seine Patienten genau, bevor er zu einem Mittel greift. Und dann mixt er die Rezeptur. Studenten und Kollegen helfen ihm dabei. In dem Projekt bildet der Geologe auch die kambodschanischen Mitarbeiter aus. Von ihrem Können hängt viel ab, wenn die Arbeit Erfolg haben soll.

Das Team rührt also passende Mörtel an, die dem ursprünglichen Sandstein möglichst nahekommen. Dazu mischen sie Kieselsäureester mit Sand und gemahlenem Gestein. So lassen sich Schäden vermeiden, wie sie andere Materialien oder Klebstoffe hervorrufen.

1995 kam Hans Leisen zum ersten Mal hierher, zwei Jahre später startete das "German Apsara Conservation Project" (GACP), das seither vom Referat Kulturerhalt im Auswärtigen Amt finanziell gefördert wird. Auch die Fachhochschule Köln und der Förderverein Fakt beteiligen sich. Seit Langem also hilft deutsches Geld, asiatische Kulturschätze zu bewahren. Die Deutschen allerdings sind nicht alleine. Experten aus mehr als einem Dutzend Ländern sind vertreten, und jedes Team konzentriert sich auf eine andere Tempelanlage. So arbeiten alle mehr oder weniger nebeneinander her.

Am Tempel Ta Keo zum Beispiel spricht man jetzt Chinesisch, das Team baut ganze Teile ab, um sie dann wieder neu zusammenzusetzen. Während die Chinesen und andere hier restaurieren und rekonstruieren, ist Leisen darauf spezialisiert zu konservieren. "Letztlich ist das alles auch eine Frage der Philosophie. Will man den Charme eines geheimnisvollen, vom Urwald überwucherten Tempels bewahren? Oder will man ihn doch lieber schön sauber neu erstehen lassen, so gut es eben geht?" Die Ansichten darüber gehen weit auseinander. Und in dem riesigen Gebiet um Angkor mit Hunderten historischen Stätten gibt es keine klare Linie. Hans Leisen sagt, es gehe ihm nicht darum, stolz das deutsche Fähnchen zu hissen. Oft seien internationale Kooperationen sehr fruchtbar. Anstatt jeder Nation einen Tempel zuzuweisen, wäre es aus seiner Sicht viel besser, zunächst zu klären, welche Arbeiten eigentlich nötig sind, um dann für die jeweilige Aufgabe die richtigen Experten zu finden, wo immer sie auch herkommen. Aber das geschieht kaum.

Rettung für die Ewigkeit: eine Illusion

Leisen turnt viel auf Gerüsten herum, er ist kein Mensch fürs Büro. Manche Asiaten wundern sich: Kann einer, der in blauer Latzhose da oben schwitzt, wirklich ein guter Professor sein? Unter den Kambodschanern sind manche irritiert, dass sich der Chef des Programms selbst die Hände schmutzig macht. Das kennen sie so nicht. Hier gehört der Leiter ins Büro, mit Schlips und Kragen, von wo aus er dann seine Arbeiter dirigieren kann. Aber so einer ist Leisen nicht, er ist Praktiker und Theoretiker in einer Person. Und er muss mit eigenen Augen sehen, wo es krankt.

Inzwischen steht er an einem der Türme im Nordosten, und dort sieht man, dass einige der Göttinnen schon fast ganz heruntergebrochen sind. Als Leisen ins Innere des Turms tritt und nach oben blickt, sieht er über sich die aufgescheuchten Fledermäuse flattern. Was sie fallen lassen, ist zwar fruchtbar, aber doch tödlich für die Nymphen. Denn mit dem Wasser dringen Salze aus dem Kot ins Gestein, und die beschleunigen den Verfall. Dann kann sich eine blendend aussehende Apsara innerhalb von Monaten in eine gebrochene Gestalt verwandeln.

Wer Leisen auf dem Gerüst erlebt, ahnt die Leidenschaft, die ihn antreibt. Das Heiligtum von Angkor wird ihn auch jetzt, da er als Kölner Professor in den Ruhestand getreten ist, nicht so schnell loslassen. Er führt das Projekt weiter.

Doch so hartnäckig der 66-Jährige auch daran arbeitet, die Apsaras so lange wie möglich zu erhalten - eines weiß der Geologe genau. Rettung für alle Ewigkeit gibt es nicht. "Irgendwann ist alles nur noch ein großer Haufen Sand." Hans Leisen lacht. "Aber noch stehen die Tempel ja", sagt er dann mit einem Zwinkern. Und schon ist er wieder hinaufgeklettert auf das Gerüst, um die nächste Patientin abzuklopfen.

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Quelle:
SZ vom 23.04.2014
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